Jack McDevitt: Die Küsten der Vergangenheit

 

Beklemmend realistisch
Jack McDevitt: Die Küsten der Vergangenheit
(Bastei Lübbe 24235)


Eines schönen Tages gräbt ein amerikanischer Farmer in der Nähe der Grenze zu Kanada auf seinem Land eine Yacht aus. Sie ist wie neu, auch wenn sich später herausstellt, daß sie über zehntausend Jahre alt sein muß. Damals war nämlich der letzte Zeitpunkt, wo man in der Gegend segeln konnte...
Das unzerstörbare Material ist ein Element weit jenseits der Transurane, was eine Chemikerin namens April in die Handlung bringt. Sie und Max, ein Pilot, werden zu den zentralen Figuren des Geschehens. Maxens Suchideen bringen bald eine weitere, viel wichtigere Entdeckung: ein vergrabenes Rundhaus aus demselben Material. Es zeigt sich, daß es nicht nur der Überrest von irgendwas ist, sondern einen funktionsfähigen Materietransmitter birgt, ein Tor zu einer Reihe von anderen Welten oder Orten.
Man beginnt mit der Erforschung des Rundhauses, und bald strömen Neugierige zuhauf herbei. Aber auch Spinner, Terroristen und religiöse Fanatiker werden angelockt. Und habe ich schon erwähnt, daß der Fundort Indianerland ist? Die Sioux überwachen die Ausgrabungen wohlwollend, aber nicht ohne Mißtrauen.
Ein großer Teil des Romans handelt in bester SF-Tradition von der Suche der Wissenschaftler und Amateurarchäologen nach den Spuren, die man seit dem Fund der Yacht vermutet, von den Ausgrabungen und den ersten Schritten bei der Entdeckung des Rundhauses. Doch als die Tatsachen erst einmal etabliert sind, wendet sich der Autor den Folgen zu. Die Funde bedeuten mehrere Dinge: erstens, daß wir nicht allein sind - doch diese Folgerung verblaßt in ihrer Bedeutung neben den anderen. Zweitens, daß es ein Material gibt, aus dem man nahezu unzerstörbare Produkte herstellen kann. Drittens, daß eine Technologie erforscht und eventuell nachgebaut werden kann, die zumindest Transporter und die Beherrschung von Gravitation umfaßt. Und schließlich viertens, daß da draußen ein paar neue Welten nur auf Menschen zu warten scheinen. Denn alles, was man am anderen Ende findet, erscheint leer und verlassen.
McDevitt betrachtet nicht so sehr die oft beschworenen Folgen der Erkenntnis, daß wir nicht allein sind, für die Psyche oder das Sozialgefüge oder die Religion der Menschen. Wahrscheinlich ist er wie ich der Meinung, daß die Tatsache gar nichts ändern würde. Die Menschen sind doch viel zu sehr mit sich beschäftigt, als daß ein Erstkontakt irgendwelche weitreichenden Auswirkungen hätte. Die wirtschaftlichen Folgen der oben beschriebenen Erkenntnisse sind in dem Buch jedoch gravierend. Entlassungswellen und Börsencrashs setzen ein. Angst und Unsicherheit verbreiten sich. Immer mehr Stimmen fordern, das Rundhaus als Quelle von einer so neuen Technologie nicht nur zu schließen, sondern ganz zu zerstören.
Das erscheint vielleicht widersinnig, sonst hört man bei solchen Gelegenheiten doch eher das Gegenteil. Technologieschub, Entwicklungssprung usw. - doch McDevitt gelingt es, die Argumente dagegen ebenso überzeugend zu begründen.
Die Hysterie, der Presserummel, die zahllosen unvernünftigen und entwicklungsfeindlichen Stimmen, all das klingt so, daß man sich sagt: Jawohl, genauso würde es vermutlich laufen.
Schließlich kommt es zu einer scheinbar aussichtslosen Zuspitzung. Der Präsident läßt sich überreden, das Land der Indianer zu enteignen und der Regierung die Kontrolle über das Objekt zu übergeben, mit dem einzigen Ziel, es dann durch einen „Unfall“ zerstören zu lassen. Die Indianer weigern sich und sind bereit, ihr Land - und den Zugang zu einer ganzen neuen Welt für sie - mit Waffengewalt zu verteidigen. Ein weiteres Wounded Knee scheint sich anzubahnen.
Die Amerikaner trauen ihrer eigenen Regierung offenbar jede Scheußlichkeit zu. Andererseits sind sie komischerweise von der Demokratie überzeugt. Demokratien führen keine Kriege gegeneinander, wird in dem Buch behauptet. Ich wäre da nicht so sicher, vor allem nicht im Zusammenhang mit einem Szenario, wie es sich McDevitt hier ausgedacht hat.
Die Auflösung kommt mit einer unerwarteten Wendung, wie ich sie selten erlebt habe. Keine göttlichen Außerirdischen treten aus dem Rundhaus, um den mahnenden Finger zu heben, nein. Als schon Schüsse fallen, landet Max mit einer C-47, und ihr entsteigt eine Gruppe von Leuten, die der Poet Walter Asquith in letzter Minute zusammengetrommelt hat. Tragischerweise kommt er dabei ums Leben, das ultimate letzte Opfer sozusagen.
Der Gruppe gehören neben Carl Sagan - der damals noch lebte - und Stephen Hawking auch Gregory Benford und Ursula LeGuin an, und viele andere Menschen aus Wissenschaft und Kultur. Walter Schirra ist ebenso dabei sein Astronautenkollege Scott Carpenter oder der Wirtschaftswissenschaftler Harry Markowitz. Auf den letzten Seiten seines Buches tritt McDevitt damit den Beweis an, daß vielleicht Dummheit und Ignoranz sein Land (und die Welt) regieren mögen, aber daß es auch genügend Leute gibt, die dabei nicht mitmachen. Klar, daß die von ihm zitierten Personen dazu ihre Zustimmung gaben.
Das Buch ist hard SF, und es ist wegen einer kaleidoskopischen Vielzahl von kurzen Handlungen mit wechselnden Personen nicht sehr leicht zu lesen. Aber es hat eine bedeutsame Aussage, über die es sich lohnt, einmal nachzudenken.
Und wo trifft man schon so einen Haufen von realen Idolen als handelnde Personen in einem SF-Roman?

Ancient Shores, © 1996 by Cryptic, Inc., übersetzt von Axel Merz 1998, 443 Seiten, DM 12.90 

SX 102

 

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