Ein Buch über Hahn

Carl v. Wiesemüller:
Ein Buch über Hahn, Hahn und außerdem noch über Hahn.

Was der Autor da auf übermäßig vielen Seiten ausbreitet, ist ausschließlich sein eigenes Selbstverständnis. Sämtliche anderen genannten Personen bleiben genau das: genannte Personen, Schablonen, Namen ohne Gesichter. Die „Handlung“ springt wild in den Zeiten und Themen, man verliert alsbald den Faden. Den Anschluss sowieso, denn weder werden Personen irgendwie eingeführt und gar beschrieben, noch werden Bezüge auf möglicherweise in früheren Bänden erwähnte Dinge ausreichend erläutert. Die autobiografische Figur des Herrn Dehm erlebt und agiert aus sich selbst heraus und der Autor ist nicht in der Lage, Beziehungen zu anderen glaubhaft zu machen. Als Beteiligter des Geschehens erkennt man den einen oder anderen – wie mag es aber Außenstehenden gehen? Die Personen, Firmen und Orte sind natürlich, wenn auch überflüssigerweise, im Namen verändert. Frei erfunden sind sie nicht.
Das Buch setzt in etwa da ein, wo der Autor bzw. seine Figur die Kontrolle über seinen von ihm aus einer Werbeagentur aufgebauten Verlag verliert, weil ihm die Banken und Gläubiger das Vertrauen entziehen und seine Tochter ihn ausbootet. Dann erzählt er seine Geschichte von kurz vor der Wende bis zu diesem Punkt und der Zeit danach in manchmal wirren Sprüngen, denen schwer zu folgen ist.
Die Hauptfrage wäre nun: Erzählt er diese Geschichte mit der von ihm oft beschworenen Nüchternheit und wahrheitsgetreu? Stellt er sich den Fehlern, seinen Fehlern, die zur Insolvenz des Verlages führten? Nein, das macht er nicht.
In der DDR ein erfolgreicher Autor, lebt Herr Dehm vom Schreiben, pardon, vom Lesen seines bis dahin einzigen Buches „Das letzte erste Glas“. Laut Hahn reiste er landauf, landab und las und las vor zahllosen Menschen über seinen Weg aus dem Alkoholismus. Vorher Leuna-Arbeiter, war er jetzt also freischaffend. Das brach mit der Wende weg wie so vieles. Doch statt sich einen Job zu suchen, verbündete der von der Stasi verfolgte Dehm sich ausgerechnet mit einem Stasi-Major, um ein weiteres Buch zu schreiben, das in Wirklichkeit eher mäßig erfolgreiche „Aus Liebe zum Volk“. Danach gründete er mit dem Mann zusammen eine Firma, die Sportwerbung organisierte. Es ist bezeichnend für sein Selbstverständnis, dass für ihn nach der Wende nur in Frage kam, zum Ausbeuter anderer Menschen zu werden. So schildert er dann auch seine Arbeiter und Angestellten – nämlich gar nicht. Für ihn sind sie nur Mittel zum Zweck des Geldmachens, austauschbare Schatten.
Als es nach anfänglichem Erfolg dann nicht mehr so klappt, ist das Finanzamt schuld, der Steuerberater, die unfähigen Mitarbeiter … nur einer nicht, der Herr Dehm. Der ist nämlich inzwischen zum Helden seiner eigenen Geschichte geworden. Oder der Geschichte des Herrn Hahn? So genau kann man das nicht trennen.
Dehm versucht Weihnachten einem Alkoholkranken das Leben zu retten, Dehm spendet seiner Frau eine Niere … wirklich passiert und lobenswert, aber was machen eigentlich all die anderen um ihn herum? Davon liest man nur, wenn es Dehm betrifft.
Die anderen sind die Schuldigen, die Bösen, die Dummen auch. Selbst wenn er einen Auftritt vor dem Börsenverein schildert, bei dem er seine Idee vom „horizontalen und vertikalen Buchhandel“ präsentiert, scheint er nicht zu begreifen, dass er damit den versammelten Verlegern und Buchhändlern ins Gesicht gespuckt hat. Ihre wütende Reaktion reflektiert er mit Verständnislosigkeit. Seine Version des Druckkostenzuschussverlages ist natürlich keiner. Er ist doch der positive Held!
Wer erwartet hatte, im letzten Drittel des Buches vielleicht Einzelheiten zum Ende des Verlages zu finden, wird enttäuscht. So, wie es der Autor darstellt, geht er – Dehm – nach seiner kurzen Besinnungsphase auf einem Hausboot gleich zum Insolvenzgericht. In Wirklichkeit war seine Entmachtung durch die Banken nur der Anfang einer langen Agonie. Seine Tochter übernahm in einer Art Coup das Szepter und versuchte die Firma mit Kungelei und Mobbing zu führen. Mobbing gegen ihre von Hahn und den Banken wegen ihrer Jugend erzwungenen Mitgesellschafter, die sie so schnell wie möglich loswerden wollte. Was ihr auch gelang … Geld kam immer weniger, desto mehr unbezahlte Rechnungen stapelten sich. Schließlich folgte die Kündigung des Mietvertrages und der verzweifelte Umzug nach Eisleben. Dort starb der Verlag dann schließlich ganz.
Von all dem ist in dem Buch nichts zu lesen. Nach Hahn geht Dehm geradezu würdevoll in die Pleite, sinniert noch ein wenig über den Sinn des Lebens und die Welt – und Ende.
Die Welt nach Hahn ist schlecht und versteht ihn nicht. Die Menschen, denen er gern mit seiner Genialität helfen würde, wollen merkwürdigerweise nichts von ihm wissen. Außerdem sind sie natürlich unfähig oder faul. Hätte er sich in seinem Buch ein wenig mehr mit dem realen Ende der Firma beschäftigt, dann hätte er sich auch seinen eigenen Fehlern stellen müssen, die zur Insolvenz führten: das irrwitzige Kloster-Projekt, die unverkäuflichen „Editionen“, die überproportional großen und dilettantisch geführten Buchläden am Hansering, in Merseburg oder der Steinstraße in Halle. Von diesen entscheidenden Dingen ist fast nur am Rande zu lesen. Stattdessen ist das Finanzamt schuld, oder die Unzahl von Gerichtsprozessen, die gegen den Verlag oder seinen Geschäftsführer liefen. Manchmal deutet er gar eine Art Verschwörung an. So ist die Sache geschönt wie die ganze Darstellung seines „heldenhaften“ Lebens als Herr Dehm.
Nun kann jeder sein eigenes Leben hernehmen und daraus eine Fiktion stricken, es lässt sich schnell behaupten, alles sei „frei erfunden und Ähnlichkeiten zufällig“. Beteiligte von damals wissen es besser. Hat die vierbändige Buchreihe (gelesen wurde nur der letzte Teil) damit den Anspruch, eine Autobiografie zu sein, eine Familienchronik oder gar eine Chronik Deutschlands? Das muss man den Autor fragen. Zumindest scheint es, als habe er all die Dinge, die es zu sagen ihn drängte, in Buchform gebracht. Es sind seine subjektiven Aussagen, seine subjektive Sicht auf die Ereignisse – wie es auch anders nicht sein kann – aber eben nicht mehr als das. Antworten auf Fragen, die sich vielleicht Menschen stellen, die das Geschehene miterlebt haben, gibt er nicht.
Das Buch ist im Übrigen voller Tippfehler, grammatischer Fehler, falscher Interpunktion und schlecht gesetzt (z.B. Schusterjungen). Man merkt, dass es weder von einem Unbeteiligten korrigiert wurde, noch es von jemandem gesetzt wurde, der etwas davon versteht.

Reinhardt O. Hahn: Das Paradies im Irrenhaus
Projekte-Verlag Hahn 2019
 

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Good Omens 2

Damsel – der Film

Lois McMaster Bujold: Spiegeltanz