Alfred Leman: Zilli 2062
Alfred Leman: Zilli 2062
(Verlag Neues Leben Berlin 1991)
Alfred Leman begann bereits Anfang der 70er Jahre in der DDR als SF-Autor
aufzutauchen, zunächst zusammen mit Hans Taubert im Erzählungsband
"Das Gastgeschenk der Transsolaren", der einige bemerkenswerte Stories
enthielt, dann folgte "Der unsichtbare Dispatcher" (Erzählungen, 1980)
und der Roman "Schwarze Blumen auf Barnard 3" (1986), den ich eher als
Flop betrachte. Nun legte Leman also einen weiteren Roman vor, wenn er
ihn auch in guter alter DDR-Tradition "Utopische Erzählung" nennt.
War das früher in den meisten Fällen eine unpassende Bezeichnung,
diesmal trifft sie tatsächlich zu. Das Buch stellt wirklich eine Art
Utopie dar - oder vielleicht doch eher eine Dystopie.
Bemerkenswert ist der stilistische Wandel des Autors von "Barnard..."
oder seinen Erzählungen bis zu diesem Buch. Begriffe wie New Wave
oder Cyberpunk drängten sich mir auf, doch sie treffen beide nicht
ganz zu. Zwar sind in "Zilli" die Computer allgegenwärtig, aber es
stöpselt sich niemand ein usw. Der Stil erschien mir streckenweise
gar an Brunners Morgenwelt-Schreibweise angelehnt, wobei allerdings auch
hier einzuschränken ist, erstens nicht ganz und zweitens ist Leman
eben nicht Brunner.
Jedoch Parallelen sind unverkennbar: Medienmeldungen ziehen sich durch
die Handlung und stellen fast selbst eine - allerdings nicht konsequent
bis zum Ende genutzte - Nebenhandlung dar. Der Schreibstil ist z.T. derart
gerafft und atemberaubend chaotisch, daß man nicht mehr ganz mitkommt,
wenn man nicht sehr aufmerksam liest. (Daher mein Vergleich mit CP.) Bettlektüre
also kaum, weit mehr ein anspruchsvolles Buch.
Zilli ist ein noch nicht ganz vierzehnjähriges Mädchen. (Dennoch
kein Buch für Kinder, erstaunlicherweise.) Sie lebt mit ihrem Vater
in einer Megapolis, einer gigantischen Stadt, wie man sie aus der SF hinreichend
kennt. Die Zeit ist genau definiert, es ist 2062, das Jahr, wenn der Halleysche
Komet wiederkommt. Der wird zwar auch erwähnt, spielt aber sonst keine
Rolle. Das Leben der Menschen wird vom "Netz" beherrscht, einem allgegenwärtigen
Computersystem. Teilweise haben die Aktionen und Reaktionen des Netzes
sehr restriktiven Charakter, aber nicht ausgeprägt "bösen". Im
Hintergrund spielt sich Weltpolitik ab, die jedoch keine direkten Auswirkungen
auf das Geschehen hat. Um was für eine Art politische Welt es sich
dabei handelt, kommt nicht konkret zum Ausdruck, Leman vermeidet hier weitgehend
jede Spekulation.
Zilli hat Schulferien und weiß nicht so recht, was sie anfangen
soll. Sie streift größtenteils durch die Stadt und begegnet
dabei einigen Menschen. Da ist die unscheinbare Frau Geraldine, von der
sich herausstellt, daß sie Krebsforscherin ist. Doch wie sie forscht,
ist schon recht seltsam. Sie sitzt seit zehntausenden Stunden am Computer
und füttert ihn mit Daten, ohne Aussicht und Hoffnung auf Erfolg.
Dann ist noch der namenlose Junge unbestimmten Alters zu erwähnen.
Der ist "professioneller Hacker" und hilft aus, wenn die Leute nicht mehr
mit ihren Computern klarkommen. Er hat kein Zuhause, sondern übernachtet
bei seinen "Kunden". Strenggenommen müßte er mit seiner Babysprache
und seinen Gewohnheiten wohl als schwer verhaltensgestört bezeichnet
werden. Das sind in dieser unmenschlichen Stadt übrigens alle, Zilli
nicht mal ausgenommen. Das Mädchen sucht "nach sich selbst", nach
einer Insel, wo alles anders ist, wie es sagt. Nun, sie findet am Schluß
einen gewissen neuen Halt, aber gelöst ist eigentlich gar nichts.
Das wichtigste im Buch ist wohl das Zusammenleben (?) der Leute, die
Stadt eben. Daher meine ich, es als Dystopie bezeichnen zu können.
Ein paar Besonderheiten möchte ich nicht unerwähnt lassen.
Leman hat sein Werk mit Fremdworten aus dem Englischen und aus BASIC total
überfrachtet. Freilich, darauf baut sich seine "Sprache von morgen"
auf, deren jugendliche Variante bei Zilli interessant und überzeugend
wirkt. Aber ein klein wenig nervt das alles schon, da hilft auch der achtseitige
Anhang mit Worterklärungen nichts. Für fragwürdig halte
ich die ständige Verwendung von BASIC. Dieser Programmiersprache ist
doch wohl kaum eine so weiträumige Zukunft beschieden. Einmal abgesehen
davon, daß das Englisch auch nicht immer völlig korrekt verwendet
wird, ja manchmal sogar vollkommen falsch. Mit diesem sprachlichen Experiment
erreicht Leman jedenfalls etwas: Stimmung einzufangen.
Das Buch könnte man als einen kurzen Blick in eine Welt betrachten,
die nicht gerade erstrebenswert, aber durchaus möglich ist. Da der
Handlung um Zilli eine Art durchgehendes Konzept abgeht, wird sie seltsamerweise
spannend, denn man weiß nicht, was noch passieren wird und kann.
"Zilli 2062" ist stilistisch interessant gemacht, vor allem für
einen Autor aus der DDR-SF etwas radikal (?) Neues. Aber es liest sich
nicht leicht. Sein Stil macht es, wenn nicht zur anspruchsvollen, so doch
zur beanspruchenden Lektüre.
SX 19
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