Anne McCaffrey: Talente-Zyklus
Anne McCaffrey: To Ride Pegasus
(Orbit, 1973)
"The Rowan", rezensiert in SOLAR-X 19, brachte mir McCaffreys "Talente"
- telepathisch begabte Menschen einer Erde der Zukunft - zum ersten Mal
nahe. Ich wußte damals nicht, daß die Autorin mit diesem Buch
ebenfalls eine Art losen Zyklus fortsetzte, der mit "To Ride Pegasus" (Den
Pegasus zu reiten) begann.
In diesem Werk schilderte McCaffrey, wie es zum Auftreten der Telepathen
(u.a. Talente) kommt und wie sie den Platz in der Gesellschaft finden,
der in "The Rowan" schon etablierter Hintergrund ist. Es gibt nun eine
ganze Reihe von Geschichten über das erstmalige Auftreten von PSI-Kräften,
die dann im Laufe einer Romanhandlung entweder negativ oder positiv eskalieren.
Es ist ein Schwachpunkt vieler solcher Geschichten, daß sie meist
nicht hinreichend begründen, wieso die erstmalige Erkenntnis von der
Realität jener Kräfte ausreicht, daß sie sich in Windeseile
ausbreiten.
McCaffrey hat es in "To Ride Pegasus" verstanden, diese Schwachstelle
zu meistern. Sie verwendet eine recht spannende, wenn auch zu Anfang ziemlich
episodenhafte Handlung darauf, zu erklären, wieso latente PSI-Talente
ursprünglich nicht erkannt wurden, bzw. sich selbst nicht über
die Natur ihrer Fähigkeiten im klaren waren. Es handelt sich bei den
Talenten (so ihre übliche Bezeichnung im Roman) nicht nur um Telepathie,
sondern auch um alle anderen denkbaren "übersinnlichen" Fähigkeiten.
Ein Zufall verhilft auch hier zur wissenschaftlichen Entdeckung der
Talente. Ein praktizierender Astrologe und Wahrsager verunglückt und
kommt in eine Klinik, wo er mit einem hochsensiblen Enzephalographen untersucht
wird (Kopfverletzung). Eine Krankenschwester hat die Fähigkeit des
Heilens (im Sinne des "Handauflegens", nur eben psychokinetisch). Sie bemerkt
nun als erste eine Korrelation zwischen der Vorausahnung oder Vision des
Patienten, daß er sie heiraten würde, und gewissen Kurven auf
den Anzeigen des erwähnten Gerätes. Dies leitet erste Untersuchungen
des Phänomens ein, und der Stein ist ins Rollen gekommen. Nicht unerheblich
ist dabei, daß der Astrologe recht einflußreich ist.
Mag sein, die folgende Entwicklung ist ein wenig geradlinig geschildert,
aber sie ist durchaus logisch und nicht ohne Hindernisse. Wie man sich
denken kann, liegen diese meist in den Vorurteilen und der Nichtakzeptanz
bei anderen Menschen, vor allem den Politikern.
Aus der episodenhaften Schilderung der Anfänge wird dann in der
zweiten Hälfte des Buches noch eine zusammenhängende Handlung.
Als erst einmal bewiesen ist, daß es die Talente gibt, und man sie
mit wissenschaftlichen Mitteln nachweisen kann, ist ein Weg da, um nichttalentierte
von talentierten Menschen zu unterscheiden. Für letztere entsteht
ein Trainings- und Forschungszentrum, das über Jahre hinweg die Betreffenden
in der Anwendung ihrer Fähigkeiten schult, sowie ihnen angemessene
Jobs verschafft, in denen sie ihre besonderen Mittel auch einsetzen können.
Darin liegt eine relative Neuheit in der Darstellung durch die Autorin.
Die Talente sind nicht Freaks und Außenseiter, die mit ihren Fähigkeiten
leben müssen, sondern sie leben durch sie. Und zwar von Anfang an
wird dieser Weg beschritten. Vor allem die Vielfalt der Einsatzmöglichkeiten,
die auch in "The Rowan" auffällt, ist sehr interessant.
Etwas störte mich der Bruch in der Handlung, als von den ersten
Hauptpersonen ziemlich abrupt zu den zweiten übergegangen wird. Zwar
festigt sich dann die Handlung, so daß man den ersten Teil als eine
Art Vorgeschichte ansehen könnte, aber für einen Roman wirkt
diese Teilung etwas störend. Wie in einem Film, wo in der Mitte alle
Hauptdarsteller sterben und ein paar Nebenrollen sie ersetzen müssen.
Das Buch hätte durchaus zu einem umfangreicheren Werk werden können,
wenn die Autorin nicht alle Konflikte so schnell gelöst hätte.
Meistens stellt sich heraus, daß ein Antagonist auch ein (unterdrücktes)
Talent hat, oder er wird anderweitig bekehrt. In nur einem Fall endet ein
Problem tödlich. Dieser Gesichtspunkt stellt eine Schwäche dar,
denn dadurch erscheint die Entwicklung der Talente zu folgerichtig.
Als Roman für sich gesehen ist "To Ride Pegasus" zweifellos kein
besonders bemerkenswertes Werk McCaffreys, obwohl er einige in diesem Zusammenhang
neuartige Punkte enthält. Als Grundstein für den Talente-Zyklus
(so kann man ihn schon nennen) jedoch ist das Buch sehr wichtig. McCaffrey
hält sich hier daran, eine Welt logisch zu entwickeln und nicht einfach
als gegeben vor den Leser hinzustellen - was das Ganze natürlich viel
interessanter macht. Die direkte Fortsetzung des Romans stellt das Buch
"Pegasus in Flight" dar. Zeitlich recht weit danach ist "The Rowan" angesiedelt,
so daß vielleicht noch ein Buch zu erwarten ist, was dazwischen liegt.
"Damia" - soeben als teurer Hardcover erschienen, ist wiederum die direkte
Fortsetzung zu "The Rowan".
In Deutsch liegt zumindest "To Ride Pegasus" schon vor, und zwar unter
dem Titel "Wilde Talente" bei Heyne erschienen 1986 (Nr. 4289).
Anne McCaffrey: Pegasus in Flight
(Corgi Books, 1991)
Bislang der zweite Band im Talente-Zyklus Anne McCaffreys erschien "Pegasus
in Flight" (Pegasus im Flug) ein Jahr nach dem dritten Band "The Rowan"
und 18 Jahre nach dem ersten, "To Ride Pegasus". Zeitlich liegt das Buch
näher am Entstehungszeitpunkt der Talente, die handelnden Personen
sind die Enkel der ersten Talente der Erde.
Es gibt eine Reihe Hauptpersonen in diesem Buch, das recht vielschichtig
die weitere Entwicklung nicht nur der übersinnlich begabten Menschen
darstellt. Da ist Rhyssa Owen, die Enkelin des ersten Direktors des Parapsychischen
Zentrums und jetzige Direktorin. Da ist Peter Reidinger, ein gelähmter
vierzehnjähriger Junge, der es als erster lernt, elektrische Energie
für die Verstärkung psychokinetischer Fähigkeiten zu nutzen
- was die Grundlage für die interstellare Raumfahrt aus "The Rowan"
sein wird. Und da ist Tirla, ein zwölfjähriges Mädchen aus
den Slumbezirken der Megalopolis Jerhattan.
Alternierend wird von den jeweiligen Problemen und Erfahrungen der
drei unterschiedlichen Talente berichtet, bis Peter und Tirla auch in das
Zentrum gelangen und ausgebildet werden. Wiederum konzentriert die Autorin
sich nicht auf einen geschlossenen Handlungsstrang, sondern läßt
die Komplexität einer Welt in vielen Details vor dem Leser entstehen.
Im Gegensatz zum ersten Teil des Zyklus' behält sie aber die Kontrolle
über ihr Figurenensemble und liefert ein oder zwei "rote Fäden",
an die sich der Leser halten kann.
Der eine Handlungsfaden ist der Bau der ersten großen Weltraumstation.
Er wird von einer unausstehlichen - russischen - Frau geleitet und die
geht über Leichen. Nun will sie auch noch die Unterstützung der
Talente erzwingen, um ihr Planziel zu erreichen. Der Konflikt, der daraus
entsteht, wirkt durchaus glaubwürdig, wenn auch nicht ganz einleuchtend
ist, wie sich die Frau mit ihrem Verhalten auf diesem Posten halten kann.
Aber die Gesellschaft auf der geeinten Erde McCaffreys ist nicht mehr das,
was sie mal war. Das große Problem ist die Überbevölkerung,
die man durch die Expansion in den Weltraum zu mildern hofft. Man darf
nur zwei Kinder pro Familie bekommen, alle anderen bleiben illegal. Trotzdem
strengen sich die Underdogs dieser Welt an, soviele Kinder wie möglich
zu bekommen, denn im Alter von 10 Jahren kann man sie verkaufen. An Perverse,
an Sklavenhalter und an Organbanken. In einer solchen Umgebung muß
sich zu Anfang das Mädchen Tirla behaupten. Der kriminelle Kinderhandel
ist der zweite Handlungsfaden, der sich durch das Buch zieht und für
einige Spannungsmomente sorgt.
Einerseits vereinfacht McCaffrey, indem sie ein globales Problem wie
die Bevölkerungszunahme als Hauptquelle allen Leids heranzieht, andererseits
dringt sie aber auch genau zu deren eigentlicher Ursache vor, indem sie
die Gründe für die illegalen Kinder aufzeigt. Bildungsnotstand,
Armut und ethnische Traditionen, die sich sehr schwer ausrotten lassen,
sind auch heute die Ursache für Bevölkerungsexplosionen. Sogar
die (relativ) bessere medizinische Versorgung in der dritten Welt ist schuld,
und wird von McCaffrey in den Zwangsimpfungen in den Linears (Slums der
Stadtkomplexe) reflektiert.
Im Aufgreifen und Verwenden solcher aktuellen Bezüge und Extrapolationen
liegt ein deutlicher Unterschied zu dem älteren Werk, mit dem man
natürlich vergleichen muß. Waren es in "To Ride Pegasus" nur
die Senatoren ähnelnden Politiker, die ans Heute erinnerten, ist in
"Pegasus in Flight" viel mehr Verständnis für Zusammenhänge
zu spüren.
"Damia" handelt definitiv nach "The Rowan", aber vielleicht schreibt
die Autorin noch das Bindeglied zwischen den Büchern, wie die Talente
letztlich das Sonnensystem und die Sterne zugänglich machten. Es wäre
sicher sehr interessant.
Mit der Titelwahl lehnt sich Anne McCaffrey ausdrücklich an den
ersten Teil an, was man sehr deutlich im Inhalt wiederfindet. Auch hier
ist ein Aspekt das Finden weiterer und neuartiger Talente, die Auseinandersetzung
mit den Behörden und den Nicht-Talenten. Die Autorin versteht es jedoch
auch, einer Elitehaltung und gesellschaftlichen Abkapselung ihrer Gestalten
entgegenzuwirken. Am Ende finden sich Rhyssa und ein offensichtlich übersinnlich
untalentierter Mann zusammen und sie erwartet ein Kind von ihm.
Die beiden Haupthandlungslinien lösen ihre Konflikte auf, wobei
ich mir hier vielleicht etwas mehr Dynamik gewünscht hätte. Aber
die Talente sind sehr ethisch. Die Bösen werden nicht getötet,
sondern nur zur Zwangsarbeit nach Recht und Gesetz verurteilt. So ekelhaft
wie McCaffrey die Böslinge geschildert hatte, dachte ich eigentlich,
daß sie im Showdown dran glauben müßten. Ich weiß
nicht: wenn ein vierzehnjähriger, außerordentlich begabter Telekinet
zusehen muß, wie einer der Oberbösen seiner Freundin die Bastonade
gibt, würde er ihn wohl nicht bloß telekinetisch zurückreißen
und gegen eine Wand schmeißen. Aber es ist ja kein Horrorbuch, in
dem die Leute ausgewrungen werden würden.
Die Drachenlady von Pern entwickelt hier ganz nebenbei offenbar einen
weiteren SF-Zyklus, und man kann sagen, daß es ihr sehr gut gelingt.
Vielleicht wird man auch die restlichen Bücher in deutscher Sprache
lesen können.
SX 32
Kommentare
Kommentar veröffentlichen