Bernard Werber: Die Ameisen
Bernard
Werber: Die Ameisen
(Heyne 01/9054)
Bereits in der zweiten Auflage erschien dieser Tage das Buch eines französischen
Autors in der Allgemeinen Reihe, das man getrost zur SF hinzurechnen kann,
da es offensichtlich ca. 100 Jahre in der Zukunft spielt und größtenteils
phantastischen Charakter trägt. Aber es ist keine SF gewöhnlicher
Art, auch kein normaler Horror, wie es der (natürlich falsche) Klappentext
verheißt. Der orientiert sich anscheinend an diversen mehr oder weniger
gelungenen Filmen, die zum Thema Ameise schon gedreht wurden. Einen "mörderischen
Vernichtungsfeldzug gegen die menschliche Zivilisation" starten die Ameisen
hier nämlich nicht.
Am ehesten ließe sich der Roman mit dem Film "Phase IV" vergleichen,
aber wirklich nur entfernt.
Gegen Insekten haben die meisten Menschen etwas. In der Regel werden
sie als Schädlinge betrachtet, obwohl schon das in der überwiegenden
Mehrzahl falsch sein dürfte. Aber das Insekt, sei es nun Tarantula
oder die Fliege oder Ameise, ganz zu schweigen von der Spinne, jagt dem
Menschen wohl irgendwie Angst ein - "Arachnophobia", ein anderer Film zum
Thema, dessen Titel schon davon spricht.
Nicht ohne Grund war das BEM, das insektenäugige Monster, über
lange Jahre der Prototyp des bösen Außerirdischen.
Der französische Autor und Ameisenforscher geht von einem ganz
anderen Gesichtspunkt an die kleinen Krabbler heran. Er postuliert ihre
Intelligenz und legt schlüssig dar, daß es tatsächlich
so sein könnte, ohne daß wir etwas davon bemerken müßten.
Natürlich könnte man ihm sicher einiges entgegenhalten, z.B.
das doch recht kleine Gehirn der Ameise. Werber greift auch nicht zum Standardtrick,
der sich ja bei einer staatenbildenden Tierart anbietet, ein kollektives
Bewußtsein zu erfinden. Seine Ameisen sind durchaus Individuen, die
bewußt handeln können. Das ist das grundlegende phantastische
Element des Buches.
Der Roman ist in drei Ebenen aufgebaut, wobei eine davon keine Handlung
repräsentiert. Jonathan Wells erbt von einem verschrobenen Onkel,
der Biologe war, eine große Wohnung im Kellergeschoß eines
uralten Hauses. Der Onkel hinterläßt ihm die Warnung, den tieferliegenden
eigentlichen Keller nie zu betreten. Aber natürlich betritt er ihn
- und verschwindet nach allerlei rätselhaften Aktivitäten. Ihm
folgen seine Familie, Feuerwehrleute und Polizisten. Keiner taucht je wieder
auf. Aber jedesmal erzählt sich der Autor ein Stück tiefer in
den Keller hinein, bis dann die hundertjährige Großmutter mit
zwei Wissenschaftlern dem Leser das Geheimnis löst.
Die zweite Handlungsebene erzählt von den Ameisen, aus der Sicht
der Ameisen. Sie leben im nahen Wald in einer Föderation aus über
sechzig Ameisenstädten, bzw. -hügeln. Die Protagonisten sind
hier hauptsächlich ein Männchen namens 327, ein Weibchen, das
später zur Königin wird, und ein Soldat namens 103683. Die drei
sind einem Geheimnis auf der Spur, das sie oft in gefährliche Situationen
bringt. Ein wahrer Thriller!
Der dritte Teil des Buches wird durch Auszüge aus einer "Enzyklopädie
des relativen und absoluten Wissens" gebildet, die in den Text eingestreut
sind. Diese Betrachtungen sind erstaunlich, stellen sie doch Anregungen
dar, anders zu denken, als wir es gewohnt sind, den anthropozentrischen
Standpunkt zu verlassen. Außerdem dokumentieren sie die Forschungen
des verstorbenen Onkels (des Autors der Enzyklopädie) an den Ameisen.
Nein, er ließ sie nicht mutieren, sondern fand einen Weg, sich mit
ihnen zu verständigen.
Anders zu denken, ist auch der Schlüssel zu der Tür der unterirdischen
Gewölbe, die nach und nach eine Reihe von Leuten verschluckt. Ein
Rätsel: Wie bildet man aus sechs Streichhölzern vier gleichseitige
Dreiecke? Ich fand es sofort heraus, die Protagonisten brauchten allerdings
sehr lange dazu.
Jonathan ist ein ziemlich schlaffer Typ, er lebt erst in den Katakomben
auf, am Ende des Buches. Seine Frau und sein Sohn sind die nächsten
Opfer des Kellers. Der menschliche Teil des Buches vermittelt eine eigenartige
Stimmung. Die Leute verhalten sich merkwürdig. Da verschwinden Menschen
in dem Keller, aber die anderen haben nichts besseres zu tun, als hinterher
zu gehen. Dann mauert ihn die Polizei zu, ohne sich um die Vermißten
zu kümmern. Mystik! Irrealität! Eine Wendeltreppe, die über
fünfhundert Meter nach unten führt? Ein mehrere Kilometer langer
Gang? Gibt es so etwas überhaupt?
Natürlich nicht. Das ist Phantastik. Aber eine recht eigentümliche.
Die menschliche Handlungsebene hat die Qualität eines zähflüssigen
Alptraumes. Farblose, blasse Figuren agieren nach unverständlichen
Mustern, scheinbar ohne freien Willen. Erst Großmutter Augusta profiliert
sich als Gestalt ein wenig.
Ganz anders die Ameisen. Das sind Charaktere, die sich einprägen,
da entwickelt sich eine klare und spannende Handlung mit Rätseln und
Konflikten. Der Leser erhält tiefe und glaubhafte Einblicke in die
Biologie und Soziologie eines Ameisenvolkes. Die Ameisen sind unbestritten
die eigentlichen Helden dieses Buches. Fast erscheinen sie intelligenter
als der Mensch, innovativer sind sie im Buch auf jeden Fall.
Freilich gibt es ein paar Szenen, die an Horror erinnern. Aber wollte
man jedes Buch, in dem Ratten vorkommen, zu dieser Sparte rechnen, müßte
man ganz schön viele Werke anders einordnen.
"Die Ameisen" ist SF der etwas anderen Art, möchte ich sagen.
Mich hat das Buch bis lange nach Mitternacht gefesselt. Die Auflösung
der Rätsel geschieht wirklich erst am Schluß, bis dahin kann
man vieles nicht einmal erahnen.
Einen Tip gebe ich noch zu den Streichhölzern: Wieviel Dimensionen
kann man eigentlich benutzen?
[Les Fourmis, © Bernard Werber 1991, übersetzt von Michael
Mosblech 1992(94), 370 Seiten, DM 12.90]
SX 52
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