Bernhard Werber: Der Tag der Ameisen
Tag der Abrechnung
Bernhard Werber: Der Tag der Ameisen
(Heyne 01/9885)
"Die Ameisen" war schon ein Buch, das man mit "ungewöhnlich" nur
vage beschreiben konnte. (Dazu die Rezi in SX 52.) Seine Fortsetzung ist,
wenn möglich, noch genialer, noch besser. Man muß schon zu Attributen
wie faszinierend oder fesselnd greifen, um einen gewissen Eindruck wiederzugeben.
Außerdem transportiert die bis zuletzt spannende Handlung Botschaften
von verblüffender Tiefe und Weisheit. Doch der Roman beinhaltet genauso
eine bitterböse Abrechnung mit dem Menschengeschlecht. Schonungslos,
prägnant und treffend stellt der Franzose uns an den Pranger. Die
Ameisen, die uns aus naheliegenden Gründen "Finger" nennen, urteilen
nüchtern und analytisch: "Ein Finger kümmert sich nur um sich
selbst. Von Natur aus empfindet der Finger ein starkes Bedürfnis,
alle anderen Finger zu töten. Die »Gesetze«, ein strenger,
künstlich geschaffener Sozialcode, dienen dazu, ihre Mordgelüste
zu mäßigen." (S. 464)
Man sollte den ersten Teil kennen, bevor man sich dieses Buch vornimmt.
Im Laufe der damaligen Handlung gerieten siebzehn Personen in eine unterirdische
Falle, aus der sie offenbar nicht wieder herausgelangen konnten. Da sich
der entsprechende Raum direkt unter einer Ameisenstadt befand und sich
die Leute mittels eines Apparates mit den Ameisen verständigen konnten,
war ihr Überleben zunächst noch gerade so gesichert. Die Ameisen
versorgten sie. Erwähnt werden sollte auch, daß diese Ameisen
eine eigene Zivilisation darstellten.
Die Gruppe in der Höhle überlebte entgegen den Erwartungen,
obwohl die Ameisen den offiziellen Kontakt abbrachen und nur noch ein paar
Rebellen zu ihnen hielten. Doch nicht diese Personen sind die Hauptgestalten
des neuen Romanes. Da wäre zunächst einmal Nr. 103 683, die Soldatenameise
aus dem ersten Teil, die von ihrer Königin an der Spitze von dreitausend
Ameisen auf einen Feldzug geschickt wird, um alle Finger auf der Erde auszurotten
(!). Man vermutet, es könnte so fünf oder sechs Fünfergruppen
geben... Wie schon im ersten Teil ist diese Ameise die sympathischste Gestalt
des Buches.
In der Welt der Menschen ereignen sich inzwischen rätselhafte
Morde, denen vor allem Wissenschaftler zum Opfer fallen, die sich damit
befaßten, Insektizide zu entwickeln. Und es sieht immer mehr danach
aus, als seien sie von Ameisen umgebracht worden! Als Leser war ich dadurch
etwas verwirrt, da einerseits erst geschildert wird, wie sich der Kreuzzug
nach Osten bewegt, andererseits die Leute umkamen. Hatte Werber irgendein
Spielchen mit der Erzählzeitebene vor? Aber es kam dann doch ganz
anders - eine von vielen Überraschungen, mit denen das Buch aufwartet.
Ein Polizeikommissar Méliès und die Journalistin Laetitia
Wells ermitteln in den Mordfällen und kommen sich dabei menschlich
näher. Laetitia ist übrigens die Tochter von Edmund Wells, dem
Erfinder des Kommunikationsapparates, des Autoren der "Enzyklopädie
des relativen und absoluten Wissens" und überhaupt des an allem Schuldigen
- der leider längst tot ist. (Und dessen restliche Familie unter der
Erde gefangen ist.) Ein seltsamer Zufall, der aber nicht der einzige bleibt.
Die beiden stellen sich der unglaublichen Wahrheit, daß Ameisen an
den Morden beteiligt waren, worauf sich die Frage ergibt, wer sie dazu
angestiftet hat.
Ohne daß der Autor sich zu tief in detektivische Spitzfindigkeiten
und technische Einzelheiten verliert, stoßen die zwei bald auf die
Verantwortlichen. Aber der Kommissar verhaftet sie nicht etwa.
Nr. 103 gelangt als letzte überlebende Ameise der Invasionsarmee
in die Stadt und sogar in Laetitias Wohnung. Bis dahin müssen allerdings
Schlachten gegen andere Tiere geschlagen, Verbündete gewonnen und
Hindernisse überwunden werden. Die krasse Fehleinschätzung der
Finger durch die Ameisen führt dazu, daß ihr Angriff überhaupt
nicht bemerkt wird. Zu diesem Zeitpunkt weiß der Leser schon, daß
die Armee nicht für die Morde verantwortlich ist. Aus eigener Kraft
konnten Ameisen diese gar nicht erledigen. Der Mensch mußte sie anleiten.
Gerade als man glaubt, daß den Menschen nun doch kein Vernichtungsfeldzug
der Ameisen droht, versetzt Werber dem Leser eine eiskalte Dusche: Die
Königin daheim im Wald liest in einer Jahrtausende alten Aufzeichnung,
wie die Ameisen die Dinosaurier vernichteten! Alles, was nötig wäre,
um den Menschen das gleiche Schicksal zu bereiten, könnte diese Königin
in die Wege leiten.
Doch bevor es dazu kommt, wird sie von den Rebellen im eigenen Bau
getötet. Und so haben die Ameisen, die inzwischen die gefangenen Menschen
für ihre Götter halten (weil einer von denen es ihnen eingeredet
hat), vielleicht die Menschheit vor einem ähnlichen Schicksal bewahrt.
Was Nr. 103 die ganze Zeit als Geheimauftrag der Rebellen mit sich
führt und wie die Eingeschlossenen schließlich nach vielen Monaten
gerettet werden, will ich hier verschweigen. Die beiden ungewöhnlichen
Bücher sind es wert, gelesen zu werden.
In der Landschaft der Science Fiction stellen die "Ameisen"-Bände
herausragende Sehenswürdigkeiten dar. Zwar weiß ich nicht, ob
Werber selbst seine Bücher als SF sieht, obwohl sie definitiv im nächsten
Jahrtausend handeln, doch gehören sie meiner Ansicht nach dazu. Auf
alle Fälle sind sie eine Bereicherung - für Bücherschrank
und Leser.
Aus dem Glossar:
Sonne: Den Ameisen freundlich gesonnene Energiekugel.
Le Jour Des Fourmis, (c) by Editions Albin Michel S.A. Paris 1992, übersetzt von Michael Hofmann 1994 (Heyne 1996), 486 Seiten, DM 14.90
SX 77
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