Bob Shaw: Die Zwillingswelten

Bob Shaw: Die Zwillingswelten
(Heyne)
Rezension von Wilko Müller jr.


Die Heißluftastronauten (4773)
Die hölzernen Raumschiffe (4774)
Die flüchtigen Welten (4775)
 

Bob Shaw (1931) ist Nordire und hat eine technische Ausbildung sowie Erfahrungen in der Stahl- und Flugzeugindustrie sowie als Ingenieur und Journalist hinter sich. Sein erster Roman, "Night Walk", erschien 1967 und handelt von einem Blinden. Shaw soll eine ziemlich übersteigerte Furcht vor dem Erblinden haben, was sich auch irgendwo in den Stories widerspiegelt, die der ostdeutsche Leser zuerst von ihm bekam. Es sind dies die Geschichten um das sogenannte "Langsamglas", von denen z.B. in der Anthologie "Das Raumschiff" die Geschichte "Licht für die Zukunft" erschien.

Eigentlich reagiere ich ja ziemlich empfindlich darauf, wenn ein SF-Autor offenkundigen wissenschaftlichen Unsinn fabriziert. Ich bin der Ansicht, daß man sich zwar alles mögliche pseudowissenschaftliche ausdenken kann, aber heute schon bekannte Tatsachen nicht falsch darstellen sollte. Doch bei Bob Shaw ist das, was mir zumindest sehr fraglich vorkommt, nicht offenkundig. Er geht mit astronomischen, physikalischen und anderen Fakten ziemlich freizügig um, doch benutzt er nicht so auffallend falsche Voraussetzungen, daß man es auf den ersten Blick merkt. Was ich sehr lobenswert finde, denn andernfalls kann so etwas durchaus mein Lesevergnügen stören.
Auch befindet sich das dünne Eis, über das sich der Autor bewegt, in solchen Gebieten der Wissenschaft, die kaum ein Laie auf den ersten Blick übersieht: z.B. Himmelsmechanik oder Genetik. Bei manchen Dingen hatte ich zwar das Gefühl, daß es so nicht funktionieren würde, aber glücklicherweise störte es mich nicht, denn der eigentliche Inhalt der Trilogie vermag ausreichend zu fesseln, um alles nebensächliche vergessen zu machen.
Die Trilogie gehört vermutlich zu denjenigen im riesigen Feld der SF relativ wenigen Büchern, die für sich beanspruchen können, mit einer neuen Idee zu arbeiten. Außerdem kommt sie (fast) ganz ohne die Erde und deren parasitäre Lebensform Mensch aus, was auch nicht gerade oft passiert. Wie die Titel der ersten beiden Bände schon vermuten lassen, wird hier Raumfahrt auf äußerst ungewöhnliche Weise betrieben. Nämlich mit Heißluftballons.
Nun weiß jeder, daß das nicht geht. Zwischen den Zwillingswelten schon! Das sind zwei Planeten, die sich eine gemeinsame Hochatmosphäre teilen - ein Umstand, der mir zwar als fraglich erscheint, den ich jedoch trotz Astronomiestudium nicht ohne längere Berechnungen widerlegen könnte. Will ich auch nicht, denn es ist ja eine Methode der SF, davon auszugehen, daß man fragt: Was wäre, wenn...? Wenn das himmelsmechanisch möglich wäre, könnte vielleicht auch die Raumfahrt von einem zum anderen Planeten auf die beschriebene Weise funktionieren. Shaws Bücher stellen eine außerordentlich interessante Studie von "Was wäre, wenn...?" dar.
Auf dem Planeten Diesland leben Menschen, die sich von uns nur unwesentlich unterscheiden (durch einen sechsten Finger z.B.). Sie befinden sich größtenteils scheinbar auf dem technologischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Niveau der Antike, aber nicht einfach einer Kopie der irdischen Antike. Einige Abweichungen gibt es, mit denen der Autor zugleich ein sehr wichtiges Problem aufgreift. Wie beeinflussen äußere Gegebenheiten die Entwicklung einer Zivilisation? (Die Römer hätten die Dampfmaschine haben können, aber sie brauchten solche Maschinen nicht.) Man besitzt Luftschiffe und eine bescheidene Industrie, wobei letztere nicht sehr tiefgründig beschrieben wird, sondern nur ihre negativen Auswirkungen auf die Umwelt. Letztere lassen ein Stadium vermuten, das an den englischen Frühkapitalismus erinnert. Die Wissenschaftler sind alle Philosophen, was mich vor allem an die Antike denken ließ, und ihre Mathematik und Physik muß man schon als höchst eigenartig bezeichnen. (Alles wird mit Diagrammen gelöst, es scheint den Begriff der Gleichung nicht zu geben.) Irgendwann mitten in der Handlung entdeckt einer der Philosophen überrascht, daß das Verhältnis von Kreisumfang und Durchmesser genau gleich drei ist. Man wundert sich als Leser vielleicht über die Ungenauigkeit, mit der p bestimmt wurde, und liest weiter...
Auf dem Planeten Diesland sind zudem Metalle völlig unbekannt! Alles zentriert sich um das Holz eines bestimmten Baumes, der gleichzeitig auch der wichtigste Energielieferant ist: der Brakkabaum. Das Holz ist offenbar hart wie Stahl, und im Stamm bilden sich zwei Sorten von Kristallen, die explodieren, bringt man sie zusammen. Außerdem kennt man noch Glas, Keramik und Leinen. Doch die Wichtigkeit des Brakkaholzes und seine extensive Ausbeutung bringen eine zunehmende Verknappung mit sich, wegen der schon Kriege geführt werden. Und viel schlimmer - ein Symbiont des Baumes, die Pterssa, beginnt sich mehr und mehr gegen die Menschen zu wenden, ohne daß diese die Zusammenhänge erkennen. In der sprunghaften Entwicklung der Pterssas liegt die nächste wissenschaftliche Ungenauigkeit des Autors, die ich aber wieder bereit war, zu übergehen, da die daraus folgende Handlung viel zu spannend war, um sich an solchen Trivialitäten aufzuhalten.
Widerstrebend müssen sich die Menschen eingestehen, daß sie der Pterssa nichts entgegensetzen können. Sie verbreitet eine Seuche - für den Leser scheint es, als stieße sie virulente Staubwolken aus - die nicht bekämpft werden kann. Merkwürdigerweise kennen die Menschen auf Diesland auch kaum eine Medizin. Kranke und Verwundete werden "auf den Pfad des Ruhmes geschickt", d.h. getötet.
Der Hauptheld der Trilogie heißt Tauler Marakain, wenn es sich hier auch nicht immer um die selbe Person handelt. Von der Kaste her Philosoph, von den Anlagen her Krieger (tatsächlich ist er das Produkt eines Seitensprunges eines Generals), handelt es sich am Anfang des ersten Bandes bei Tauler um einen sehr unausgeglichenen Menschen. Ich konnte mich lange nicht mit ihm als Handlungsträger anfreunden, schließlich gewöhnte ich mich einerseits daran, und die Figur entwickelte sich andererseits weiter.
Die Menschen auf Diesland entschließen sich, der Anregung eines Philosophen zu folgen und die Auswanderung auf den Nachbarplaneten Jenland zu versuchen, als die Lage mit den Pterssas prekär wird. Tatsächlich gelingt einer Flotte von Himmels(luft)schiffen das unglaubliche Unternehmen. Viele Menschen, inklusive des Hofstaates, siedeln sich auf Jenland an, während der Rest auf Diesland noch immer den aussichtslosen Kampf gegen die Pterssa führt.
Um diese Entwicklung geht es im wesentlichen im ersten Band, wobei auf Taulers Schicksal das Augenmerk liegt. Denn dieser hat wegen seines Temperaments eine Menge Probleme, zuallererst mit dem Thronfolger persönlich. Nachdem diese dann gelöst sind, kann man die erste Handlungsepisode als abgeschlossen betrachten.
Der zweite Roman setzt nur wenige Jahre später auf Jenland ein. Das neue Reich hat sich etabliert, bis auf geringe Schwierigkeiten mit gewissen Monstren scheint alles prächtig voranzugehen. Sogar mit Metall umzugehen, hat man inzwischen gelernt, denn auf Jenland gibt es welches. Mir ging die technologische Entwicklung der Menschen Shaws etwas zu rapide voran, aber er hatte wohl seinen Helden zu gern, um jetzt erst ein paar Generationen ins (Jen-) Land gehen zu lassen.
Das erste neue Problem des zweiten Buches, dem sich Tauler stellen muß, kommt von Diesland. Die zurückgebliebenen Menschen sind zu vorerst seuchenresistenten Böslingen mutiert - wieder recht unglaubwürdig, aber nötig - die mit einem Himmelsschiff landen und den Krieg erklären. Mann baut flugs - was wohl? - eine Reihe hölzerner Raumstationen, die in der Verbindungszone zwischen den Planeten geparkt werden, um einem Angriff schon dort begegnen zu können. Amüsant ist es schon, vom Shuttleverkehr mit Heißluftballons zu lesen. Die Raumfahrer kommen übrigens mit dem Fallschirm zum Boden zurück, was einen Sturz erfordert, der über einen Tag lang dauert! Einmal vom Problem der Reibungshitze abgesehen, ist das schon eine bemerkenswerte Vorstellung.
Man bekriegt sich nun eine Weile zwischen den Welten, was weitere Technologieschübe bewirkt: Feuerwaffen und so etwas wie weltraumfliegende, düsengetriebene Jagdmaschinen. Nach der Ausschaltung des gegnerischen Königs ist der Kampf erst mal gewonnen.
Taulers Unternehmungsgeist braucht nun eine neue Herausforderung. Und die besteht im dritten Planeten des komplizierten Systems, Fernland. Auf der Suche nach einer entführten Frau durchqueren Tauler und seine Begleiter das echte All in einem hölzernen Raumschiff und landen auf Fernland. Bei der Auseinandersetzung mit einer fremden Zivilisation, die den Besuchern feindlich gesonnen ist, kommt Tauler ums Leben. Die anderen flüchten mit einem richtigen Raumschiff, das wohl sogar einen Hyperraumantrieb hat.
Damit endet der zweite Teil, doch wie gesagt, der Held muß Shaw ans Herz gewachsen sein, denn ein Tauler Marakain II. setzt dessen Abenteuer im dritten Band fort. Es ist der Enkel des ersten Tauler, vom Charakter her ähnlich angelegt, nur mit ein paar Komplexen behaftet, was das Nacheifern hinter seinem Großvater angeht.
Geht es zunächst darum, ob Diesland wieder besiedelt werden kann - die bösen Mutanten sind letztlich doch von der Pterssa geschafft worden - verliert diese Frage rasch an Bedeutung, als zwischen den beiden Welten ein unerwartetes Hindernis auftaucht. Die Bewohner des Planeten Dassarra haben nämlich vor, die seltene schwerkraftfreie und andererseits luftgefüllte Zone zu nutzen, um eine gigantische Teleportationsanlage zu installieren. Diese soll ihren Planeten aus dem Bereich einer universalen Katastrophe beamen, die wohl von einer Art vagabundierenden Schwarzen Löchern hervorgerufen wurde. Daß dabei die Zwillingswelten zerblasen werden, interessiert sie nur am Rande.
Tauler II & Co. begeben sich nach Dassarra - wieder einmal in Verfolgung einer hübschen Maid - und werden gefangengenommen. Minuten vor der Katastrophe von einer Bande altruistischer Revolutionäre gerettet, verhindern sie das Zerblasen mit einer Antimaschine, doch der Planet Jenland, auf den sie schnell noch gebeamt werden, ist plötzlich an einer anderen Stelle der Raum-Zeit. Diesland und alles andere sind für immer verschwunden. Es stellt sich auch plötzlich heraus, daß p nicht ganz drei ist, sondern ein wenig mehr... Und dann ist da noch dieser seltsame blaue Planet mit seinem Mond, den man des Nachts beobachten kann.
Wir haben das Ende der Trilogie erreicht, und es sieht nicht so aus, als ob es weitergehen würde. Über den Schluß habe ich wirklich gestaunt; wie es Shaw fertigbrachte, mit einem Minimum an abschließender Information vieles vorher unklar erschienene nicht nur aufzuklären, sondern auch zu relativieren. Die Zwillingswelten befinden sich demnach nicht nur "irgendwo da draußen", sondern in einer Gegend des Universums, in der anscheinend auch andere Naturgesetze gelten. Und da kann man natürlich vieles gelten lassen, von p angefangen bis zur Himmelsmechanik.
Mir persönlich haben die - zwar sehr beschleunigt dargestellten - Erkenntnisprozesse der Menschen am meisten gefallen. Am Anfang wissen sie nichts von dem, was sie da im All erwartet, kein Newton, kein Kepler, der ihnen Hinweise gibt. Mit einer kindlich naiven Unbekümmertheit segeln sie hinaus in die Leere. Sie erleben physikalische Überraschungen mit dem Trägheitsgesetz ebenso wie mit der Temperatur im Vakuum, aber sie lassen sich nicht abschrecken.
Man kann Shaw sicher literarisch kritisieren, daß seine Personengestaltung nicht hinreichend ist, man könnte ihm vorwerfen, daß vieles Ungenaue mit den anderen Naturgesetzen entschuldigt werden soll, aber irgendwie finde ich, daß das kleinlich wäre. Die Trilogie liest sich gut, ist spannend und hält eine Reihe überraschender Momente bereit, von denen ich hier nur wenige verraten habe. Und das ist für mich erst mal das Kriterium.

SX 29 


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

David Gerrold: Inmitten der Unendlichkeit

Jack McDevitt: Die Küsten der Vergangenheit

Piers Anthonys Xanth