C. J. Cherryh: Fortress In The Eye Of Time

C. J. Cherryh: Fortress In The Eye Of Time
(HarperPrism 1995, 568 Seiten, $ 22.00)


Ich hatte es ja versprochen, Cherryhs neuesten Fantasy-Roman zu besprechen. Deshalb wagte ich mich also an das voluminöse Werk mit dem schönen Titel "Festung im Auge der Zeit". Von den SF-Zyklen und -Romanen der Autorin bin ich bisher noch immer begeistert gewesen, die Kostprobe ihrer Fantasy, die ich einmal zu lesen versuchte, fand ich aber eher langweilig. Um so gespannter war ich auf ihr neuestes Werk in diesem Genre, das von der Kritik bereits sehr gelobt wurde. Die unvermeidlichen Vergleiche wurden herangezogen - Tolkien usw. - aber darauf gibt ein Leser ja schon längst nichts mehr. Wobei man "Festung." mit so einem Bezug nicht einmal so unrecht tut.
Über Günther Grass' neuestes Buch sagte jemand, es sei wie ein Jumbo Jet: Anfangs könne man nicht so recht glauben, daß er fliegen würde, aber dann kommt er in Schwung und fliegt! Dasselbe könnte auch für Cherryhs Buch zutreffen, die wahrscheinlich weder Grass noch sein seniler Kritiker kennen. Massiv genug ist es. Anfangs schien es mir ein wenig schwerfällig in Gang zu kommen, aber dann ging es wirklich spannend zur Sache.
Cherryh hat ein besonderes Talent dafür, ihre Helden durch unsägliche Schwierigkeiten und Leiden zu schleifen, die aus dem Verhalten anderer Figuren entstehen. Das gegenseitige Mißtrauen und Unverständnis der Protagonisten ist dabei eine der Hauptursachen. Das mit den Leiden erscheint in vorliegendem Buch relativ gemäßigt, wenn auch natürlich der typische Stil Cherryhs unverkennbar ist. Auch hier haben wir es mit einem Helden zu tun, der seiner Situation und Umwelt zunächst ziemlich hilflos ausgesetzt ist - er erinnerte mich streckenweise an den Menschen aus dem Chanur-Zyklus der Autorin. Er begegnet Leuten, die ihm aus verschiedenen Gründen nicht trauen, was selbstverständlich zu argen Problemen führt.
Wie es sich für High Fantasy gehört, hat Cherryh eine komplexe Welt entworfen. Es ist nicht ein ganzer Planet, sondern entsprechend der Tradition nur ein Land mit seinen nächsten Nachbarn. Mir kommt das zwar immer ein wenig seltsam vor, aber auch bei Tolkien war Mittelerde ja ähnlich angelegt und auch die Erdsee LeGuins besteht nur aus flächenmäßig relativ kleinem Territorium irgendwo im Nirgends. Man muß sich als Leser wohl damit abfinden, daß wir im Augenblick eben nur von dieser Gegend sprechen und alles andere ignorieren. Bei einer pseudomittelalterlichen Welt mit ihren eingeschränkten Transport- und Kommunikationsmitteln ist es sogar plausibel, daß die Welt regional beschränkt ist. Die Komplexität der Welt Cherryhs liegt vielmehr in ihrer ausführlich in die Handlung einbezogenen Geschichte und in politischen Konstellationen. Auch hier folgt sie den Spuren des Mythenvaters Tolkien. Im Verlaufe der Handlung wird vieles Schritt für Schritt für den Leser geklärt, wobei nur das mehrfache Verbrennen historischer Bibliotheken die geschichtliche Ignoranz der Menschen erklären kann.
Die Figuren sind außerordentlich lebendig und detailreich beschrieben. Man erlebt das Geschehen aus der Sicht verschiedener Handlungsträger, deren Blickwinkel plötzlich mehr über eine andere Figur aussagt, als deren eigener.
Komplexität äußert sich auch in einer Vielfalt von Orten, Namen und Personen mit all dem zugehörigen Beziehungsgeflecht. Hier wird das Lesen an mancher Stelle etwas anstrengend, vor allem auch, weil bestimmte Begriffe sich ähneln und die Karte im Buch nicht viel taugt. Die Sprache der Autorin - die offensichtlich dem Stoff angepaßt ist - erleichtert die Lektüre auch nicht gerade. Rosemarie Hundertmarck - sollte sie auch dieses Buch übersetzen - ist um die Aufgabe nicht zu beneiden.
Cherryh kommt nicht um Dinge herum, die inzwischen schon so oft verwendet wurden, daß sie bereits Standards - oder Klischees - der Fantasy sind. Die Magie ist nicht gerade vergessen, aber nach einem Krieg von der herrschenden Religion unterdrückt und verketzert worden. Natürlich muß sich der Protagonist gegen Aber- und Unglauben behaupten. Er gerät zudem in einen Machtkampf um gleich zwei benachbarte Reiche hinein. Das ist alles nichts wirklich Neues, aber es geht ja nicht darum, wie man bestimmte Strukturen der Handlung in drei Worten beschreiben kann, sondern wie sie als Ganzes aussieht.
Kommen wir also zur Handlung. Tief in einem finsteren Wald, in den Ruinen einer Festung macht sich ein uralter Magier (mindestens tausend Jahre hat er auf dem Buckel) daran, den schwierigsten aller Zauber zu vollbringen: er erschafft aus dem Nichts einen Menschen! Für dies gibt es im Buch zwei synonyme Begriffe: Summoning und Shaping, die sowohl als Verb, als auch als Substantiv verwendet werden. Ersterer bedeutet soviel wie das Heraufbeschwören, letzterer die Formung. Es zeigt sich später, daß der Zauberer Mauryl den Geist (?) eines lange toten Königs beschwor und in den Körper steckte, den er erschuf. Aber es klappte nicht alles. Der junge Mann Tristen hat zunächst das Gemüt eines kleinen Kindes, keine Erinnerung und keinerlei Fähigkeiten. Mauryl muß ihm alles erst beibringen, d.h. ihm helfen, es wieder zu entdecken. Aber wie Zauberer nun mal sind - sie leiden alle am Gandalf-Syndrom - verrät er Tristen nicht, wer er war, ist und sein soll, was sein Zweck unter den Menschen ist. Mauryl kommt nach etwa einem Jahr in einer magischen Auseinandersetzung mit einem mächtigen Geist ums Leben. Tristen, allein in der Festung Ynefel, bricht auf - die einzige Straße entlang, die er findet.
Er begegnet an ihrem Ende dem Prinzen Cefwyn und vielen anderen Menschen, mit deren Schicksal sich seins untrennbar verflicht. Er findet Freunde und Feinde und lernt und lernt. Im ersten Teil des Buches ist dieser Prozeß des Wiedererlernens wahrscheinlich das Wichtigste. Es ist geradezu faszinierend, zu verfolgen, wie auf mysteriöse Weise Tristen Dinge zufliegen. Man merkt bald, das dies eine Art Erinnerungen sein müssen. Eine Szene mit Gänsehauteffekt findet sich als Höhepunkt dieser Periode, als Tristen sich unbewaffnet in eine Schlacht stürzt, um seinen Freund Cefwyn zu retten. Der sanfte Tristen entreißt einem Feind das Schwert und wütet wie ein Berserker unter ihnen. Sie erkennen ihn als das, was er ist und geraten in Panik. Doch danach kehrt er (fast) wieder zu seinem alten Selbst zurück. Er ist eine widersprüchliche und rätselhafte Hauptgestalt.
Die Gesamthandlung des Romans gipfelt und endet zwangsläufig in der Konfrontation Tristens mit dem bösen Geist, der Mauryl tötete, parallel zu einer von diesem entfesselten großen Schlacht um die Königreiche. Doch bis es dazu kommt, müssen er und seine Freunde sich durch ein Gewirr von politischen Intrigen und historischen Verflechtungen kämpfen. Da hat sich Cherryh wirklich Mühe gemacht. So verworrene Politik kennt man ja auch aus ihrer SF. Jeder lügt und manipuliert und mißtraut jedem. Es ist wie ein Ruhepunkt im Chaos, daß es hier auch noch Liebe geben kann. (Und das hat nichts mit Tristen zu tun - kein Klischee diesmal!) Ich hätte mir am Schluß noch ein paar Seiten mehr Erklärung zu Dingen gewünscht, die eine Rolle spielen, jedoch nie aus dem Mysterium hervortreten, aber natürlich geht das nicht, denn das Erzähltempo muß sich zum Showdown hin steigern.
Am Ende des Buches angekommen, glaube ich sagen zu können, daß die von Cherryh scheinbar benutzten Klischees doch in einer neuen Weise verwendet worden sind. Der neue Fantasy-Roman ist durchaus in der Lage, für sich selbst zu stehen, vielleicht nicht gerade direkt neben "Herr der Ringe" und "Erdsee", aber auch nicht weit von ihnen. 

SX 67

 

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