Carl Sargent & Marc Gascoigne: Blutige Strassen

Carl Sargent & Marc Gascoigne: Blutige Strassen
(Heyne 06/5087)


Es ist vielleicht nicht die beste Idee des Heyne-Verlages gewesen, mit der Numerierung der Bücher des "Shadowrun-Zyklus" zu beginnen. Auf der Trilogie "Geheimnisse der Macht" stehen die rechtmäßigen Zahlen 1, 2, 3 - aber in der Gesamtreihenfolge müßten das die Bücher 2, 3, 4 sein! Ab dem 8. Band stehen nun auch die Folgenummern auf dem Buch. Oder etwa nicht? Zählt man mal durch, ist "Blutige Straßen" der 9. Band - so besagts auch seine Nummer. Innen findet der verdutzte Leser aber die Schrift "Achter Band des SHADOWRUN. ZYKLUS". Einmal abgesehen von der heillosen Verwirrung der Zahlen - ich greife dieses Thema auf, weil es eigentlich völlig egal ist, welchen Band man als ersten liest (bis auf die erwähnte Trilogie, die wirklich zusammen gelesen werden sollte). Die Bücher aus dem Zyklus stehen normalerweise für sich selbst, was verkaufstechnisch ein sehr cleverer Zug ist. Leider wird gerade dieser Vorteil durch die Numerierung eliminiert. Wer kauft sich schon den neunten Band von irgendwas? Mein Rat an den Verlag - unbedingt wieder sein lassen! Mein Rat an die potentiellen Käufer - ignorieren (die Nummer) und kaufen (das Buch) - egal welches!
Und da wären wir endlich beim Buch. Man merkt, wir nähern uns "Deutschland in den Schatten" (ich bin wirklich gespannt, was H.-J. Alpers daraus gemacht hat), das Buch handelt bereits in London. Erstmalig ist es damit hauptsächlich in Europa angesiedelt.
Tatsächlich merkt man charakteristische Unterschiede - was man den Autoren hoch anrechnen muß, denn sie sind nicht den einfachsten Weg gegangen, den bekannten Hintergrund von Seattle zu übernehmen.
Natürlich ist das meiste gleich oder ähnlich, dafür ist die Shadowrun-Welt ja da. Aber die Autoren bauten dennoch etliche Kleinigkeiten ein, und natürlich eine der Hauptfiguren - einen walisischen Lord - die Lokalkolorit vermitteln. Selbst wenn auch Old England in den Schatten ist, so unterscheidet es sich doch durch seine Menschen und Metamenschen charakteristisch von den zuvor besuchten Teilen der Welt.
Die Handlung rankt sich um ein scheinbar sehr englisches Thema - Jack the Ripper.
Anscheinend gibt es da eine Person, die dessen Morde minutiös nachvollzieht. Sogar die Namen der ermordeten Prostituierten und die Daten der Ermordung stimmen. Möglicherweise geht der Mörder des Jahres 2054 allerdings noch etwas scheußlicher zu Werke als sein Vorbild. Die Schilderungen der diversen Tatorte machen dieses Buch zu einem der härtesten im Zyklus. Seinen Titel (orig. "Streets of Blood") verdient es durchaus.
Die handelnden Shadowrunner, die diesmal eher in der SIN-Legalität zu Hause sind, sehen sich plötzlich gezwungen, auf den Killer Jagd zu machen. Es sind ein englischer Lord, ein elfischer Magier aus Amerika, eine ursprünglich auch amerikanische Deckerin und ein indisches Orkmädchen - für mich die interessanteste und lebendigste Gestalt im Buch.
Die Personencharakterisierung ist diesmal tatsächlich gut gelungen. Lord Geraint ist der von den politischen Intrigen der überlebten englischen Regierungsbürokratie angewiderte Dandy, der gar nicht so dandyhaft ist. Er schmeißt mit Geld nur so um sich - ohne ihn könnte der Run also gar nicht stattfinden (endlich mal Realismus!). Außerdem hat er ein paar übersinnliche Talente und arbeitet mit Tarotkarten.
Serrin, der Elf, hat seine eigenen Gründe, in England zu sein. Ein Konzern hat ihn angeheuert, allerdings für ziemlich seltsame Aufgaben. Er versucht später, Rache für den Mord an seinen Eltern zu nehmen.
Francesca, die Deckerin, ist am blassesten geschildert. Sie ist gut in dem, was sie macht, wenn sie nicht gerade Alpträume über die Matrix hat.
Rani, das indische Orkmädchen, lebt ohnehin schon halb in den Schatten. Diese Figur war eine der interessantesten des Buches, wie ich schon sagte, ich verfolgte ihre Entwicklung mit großem Interesse.
Rani ist in erster Linie Inderin. Das heißt, sie ist den für die meisten Europäer unverständlichen Zwängen einer kulturellen Tradition unterworfen. Ihre Familie in der Gestalt zweier Brüder und diverser fernerer Verwandter dominiert ihr Leben, als habe es kein "Erwachen" gegeben. Der Platz einer Frau ist dabei offenbar immer noch irgendwo zwischen Herd und Müllgrube angesiedelt. Man kennt das ja - wenn man es auch nicht verstehen kann. Rani ist aus dramaturgischen Gründen selbstverständlich der emanzipatorische Typ. Sie nutzt die Gelegenheit der Ereignisse, um aus den beengenden Verhältnissen, in denen sie lebt, auszubrechen. Andererseits wird auch dargestellt, daß sich diese Lebensweise längst überholt hat (was ja in gewisser Weise auch für heute gilt). Die beiden Brüder, der eine ein Versager, der andere Alkoholiker, sind nur hilflose Schatten, die Rani zurückläßt, als sich ihr die Gelegenheit bietet.
Der Umstand, daß sie Ork ist, wird nur genutzt, um die rassistische Einstellung der Engländer zu betonen. Es ist bezeichnend, daß bei bestimmten Gelegenheiten kaum das Schimpfwort "Trog" (für Orks) Rani gegenüber benutzt wird, sondern sie nur "Gopi" genannt wird, was sich auf ihre indische Abstammung bezieht. Man braucht keine Shadowrun-Welt, um auf diese Problematik hinzuweisen, aber es ist nicht falsch, es auch dort zu tun. Im England von heute mögen die Probleme nicht die gleichen sein wie in Deutschland, aber es gibt sie natürlich auch dort.
Wie so oft, beschränkt sich dieses Buch nicht auf seine vordergründige Handlung, es hat uns durchaus etwas zu sagen. Man muß aufmerksam lesen und bereit sein, über das Gelesene nachzudenken, aber SHADOWRUN bietet mehr als nur Action.

Ha! Jetzt habe ich wirklich über eine Seite vollgeschrieben, ohne auf die eigentliche Handlung einzugehen. Prima! Lest das Buch doch selbst, kann ich nur noch hinzufügen. Dieser Zyklus ist mehr als nur Science Fiction und Fantasy und Cyberpunk in einem. Er ist gut!

[Streets of Blood, Carl Sargent & Marc Gascoigne (FASA Corp.) 1992, übersetzt von Christian Jentzsch 1993, 396 Seiten, DM 14,90]

SX 47


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