Charles de Lint: Das Kleine Land

Charles de Lint: Das Kleine Land
(Heyne 06/5237+5238)


Was soll ich schreiben - ich bin begeistert! Lange habe ich nicht mehr ein so gutes Buch gelesen. Charles de Lint, bisher nur von "Das Dungeon" bekannt, hat mit diesem Roman, der in Deutschland in zwei Bänden erschien, ein wundervolles Buch geschrieben, ein Werk der High Fantasy auf dem Stand der modernen Literatur. Es ist vielschichtig, mystisch, abenteuerlich und spannend. Es ist nachdenklich, poetisch und rätselvoll.
Fast fällt es schon so schwer wie bei Tolkien, zu diesem Buch etwas zu schreiben, das ihm auch nur annähernd gerecht wird.
Wo und wann handelt es? Diese Frage ist bereits nicht einfach zu beantworten. Das Werk ist in zwei deutlich voneinander abgegrenzte Handlungsstränge unterteilt, wobei der eine so eine Art Buch im Buch darstellt - deshalb aber mindestens genauso interessant ist wie die eigentliche Handlung. Doch ist das die eigentliche Handlung? Sie findet jedenfalls in Südengland unserer Zeit statt - in Cornwall, um genauer zu sein. Das ist ja nun das Land, aus dem die Legenden gemacht sind, König Arthurs Land, wie einer der Protagonisten sagt. Das Land Merlins und der Steinkreise, der Sagen von Elfen und dem Kleinen Volk. Eine bessere Kulisse könnte man sich für das Geschehen gar nicht aussuchen. De Lint gelingt es nebenbei hervorragend, dem Leser die ursprüngliche Schönheit dieser Landschaft zu vermitteln.
Der andere Teil der Handlung findet in einer kleinen Stadt namens Bodbury statt und wird in einem nur als Einzelexemplar existierenden Buch beschrieben, das im Roman eine zentrale Stellung einnimmt. In dieser Welt glaubt man zwar auch nicht an Zauberei, doch sie existiert (noch). Die Landschaft ist ganz ähnlich der in Cornwall, vom fiktiven Autor sicher nachempfunden. Es ist keine Fantasy-Welt, wie man sie kennt, sondern eine ziemlich normale; die Kinder fahren z.B. mit Fahrrädern herum. Dieses Buch, "Das Kleine Land", erweist sich aber als sehr seltsam, denn jeder liest darin eine andere Geschichte. Die Handlung des "inneren" Buches ist manchmal als Kapitel eingeschoben. Im Gegensatz zu anderen Werken, in denen diese Methode benutzt wurde, fesselt die gelesene Handlung genauso wie die um die Leser des Buches.
Janey Little - man beachte den Namen - ist die Hauptperson der Ereignisse in unserer Welt. Sie ist eine Folk-Musikerin und gerade ins Haus ihres Großvaters in Mousehole, Cornwall, zurückgekehrt. Auf dem Dachboden findet sie das besagte Buch, das ihr Großvater geheimzuhalten versprochen hatte. Als sie es zu lesen beginnt, wird John Madden, der Großmeister eines Geheimbundes, aufmerksam. Er hat es sein Leben lang gesucht, weil er das Geheimnis ergründen will, das der Autor darin versteckte. Madden ist der Böse, wie man sich denken kann, und sein Bund fängt an, Janey und ihren Freunden das Leben schwer zu machen.
Im Buch geht es auch um "die Kleinen", Gestalten aus der englischen Sagenwelt. So wie Jodi, die Heldin im Buch, nach und nach begreifen muß, daß es in ihrer Welt die Magie noch gibt, nämlich in Gestalt der Kleinen und einer bösen Hexe, so beginnt auch Janey zu verstehen, daß das Buch magische Eigenschaften hat. Aus diesem Grunde gehen Madden und seine Leute auch über Leichen, um es zu bekommen.
In beiden Handlungsebenen beginnt das Geschehen zu eskalieren, Jodi wird von der Hexe in eine Kleine verwandelt, ihre Freunde versteinert - Janey und die Ihren entgehen nur knapp einigen Anschlägen. Was die Spannung zusätzlich anheizt, ist der Umstand, daß man bis zuletzt nicht weiß, ob und wie die beiden Welten eigentlich zusammenhängen. Es gibt nur in der Geographie ein paar Ähnlichkeiten, die sich jedoch am Ende als Schlüssel erweisen. (Um so ärgerlicher ist ein Übersetzungsfehler, der einen Namen der einen Ebene irrtümlich in der anderen auftauchen ließ.)
Was sich dann als das eigentliche Geheimnis des Buches erweist, hinter dem der Orden her ist, soll hier nicht verraten werden. Eine weitere Welt spielt immer im Hintergrund eine Rolle - das "Hügelland" der Kleinen. Außerdem die "Vergessene Musik", eine mystische Melodie der Schöpfung, von der alle andere Musik abgeleitet ist.
Die Elemente von de Lints Roman sind nicht unbedingt neu. Angefangen von Sagen und Märchen Cornwalls verwendet er das Bild des magischen Buches ebenso wie das des Ur-Liedes, des Llano, wie es schon von anderen Autoren wie z.B. Anthony und Bear gemacht worden ist. Die Musik als Magie ist ohnehin ein oft thematisierter Stoff. Der Geheimbund von Zauberern, der nach der Macht strebt, taucht auch in vielen Büchern auf.
Doch was er aus diesen Teilen gemacht hat, ist ein Buch, das fesselt, das begeistern und nachdenklich stimmen kann. So muß Fantasy heute sein, wenn man sie in unserer Welt ansiedelt. Und für die Grundaussage von de Lints Werk ist es unerläßlich, diese unsere Welt mit ins Spiel zu bringen.
Der Roman ist von Johann (oder Johanna - je nach Teil) Peterka illustriert worden, und den zweiten Teil ziert ein sehr schönes Cover von Michael Whelan. Carl Lundgrens Bild für den ersten Teil ist da schon weniger passend. Norbert Stöbe leistete sich als Übersetzer nur einen groben Schnitzer, der mir auffiel, als er eine Gestalt mit dem Zug statt nach Westengland nach Westdeutschland fahren ließ, und das gleich zweimal. Wie sehr muß man eigentlich träumen, damit einem das passiert? Doch verzeihen wir es ihm, das Buch verleitet wirklich zum Träumen.

[Das Verborgene Volk
Die Vergessene Musik
The Little Country, © Charles de Lint 1991, übersetzt von Norbert Stöbe 1995, 367 © 413 Seiten, je DM 16.90] 

SX 60

 

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