Clive Barker: Das Haus der verschwundenen Jahre
Clive Barker: Das Haus der verschwundenen Jahre
(Heyne Verlag 1995)
In der Erwartung, richtig bösartigen Horror serviert zu bekommen,
bestellte ich einen neuen Clive-Barker-Roman. Schließlich ist der
Autor ja bekannt für seine "Bücher des Blutes" oder auch für
die schönen "Hellraiser"-Filme, in denen Blut und Schrecken wirklich
nicht zu knapp vorkommen. Was ich bekam, war allerdings eine Mischung aus
Horror, Fantasy und Märchen, die man getrost als Kinderbuch bezeichnen
kann. Das ist nicht etwa abwertend gemeint.
Der Horror in dem Roman ist nicht übertrieben oder zu hart, die
Stimmung ist zwar gruselig, aber eher wie in einem altmodischen Schauermärchen.
Die Hauptperson des Buches ist ein Zehnjähriger, und der Erzählstil
ist konsequent dem Erleben und Denken eines Kindes angepaßt. Jedenfalls
dem, was ein guter Autor sich als solches vorstellt. Natürlich können
auch Erwachsene das Buch lesen, aber ich halte es doch viel eher für
Kinder geeignet, so ab 12 oder 14 vielleicht. Möglicherweise liege
ich da falsch, aber eine solche Besprechung entsteht ja meist aus dem ersten
Eindruck.
Von der Langeweile des Monats Februar, wie sie nur ein Kind empfinden
mag, frustriert, trifft Harvey den seltsamen Rictus. Dieser lädt ihn
in das Haus der Ferien ein, das einem Mr. Hood gehört. Harvey folgt
ihm. In dem Haus scheint alles ein wundersames Paradies für Kinder
zu sein: Sie spielen, essen und toben den ganzen Tag. Am Vormittag ist
Frühling, mittags Sommer, nachmittags Herbst mit Halloween und am
Abend Winter und Weihnachten. Jeden Wunsch bekommt man erfüllt. Nach
anfänglichem Zögern gibt sich der Junge ganz dem Abenteuer hin.
Doch bald bemerkt Harvey Eigenartigkeiten. Da ist zum Beispiel ein
stinkender schwarzer See mit seltsamen Fischen, und neben Rictus gibt es
noch merkwürdigere Wesen in dem Haus. Kinder verschwinden anscheinend
auch gelegentlich, und sie gehen nicht etwa nach Hause.
Es überrascht nicht, daß der unsichtbar bleibende Mr. Hood
die Kinder im Haus der Ferien gefangen hält. Außer Harvey wollen
sie zwar eigentlich nicht wieder weg, aber dennoch sind sie Gefangene.
Als es dem Jungen doch gelingt, die Nebelmauer um das Haus zu durchqueren,
muß er feststellen, daß draußen über dreißig
Jahre vergangen sind: Mr. Hood hat ihm seine Jahre gestohlen!
Harvey, der sich von einem gelangweilten und naiven Knaben nun zu einem
mutigen und klugen Jungen gemausert hat, geht in das Haus zurück.
Er will seine Jahre wieder haben, und er durchschaut jetzt die Illusionen
Hoods.
Das Buch erzählt eine nette Geschichte über die Liebe und
den Mut eines kleinen Jungen, der das personifizierte Böse besiegt.
Fantasy-Elemente wie Zauberei existieren einfach so, ohne jeden Zusammenhang
zur wirklichen Welt und ohne Erklärung. Deshalb erscheint mir das
Buch doch mehr als Märchen, denn als ein normaler Fantasy-Roman. Doch
manchmal sind die Grenzen ja fließend.
Interessant ist, daß Clive Barker den Roman auch selbst illustrierte
(jedenfalls hat er das Copyright für die zahlreichen Bilder). Der
Meister kann also nicht nur gut schreiben, sondern seine Gedanken auch
bildlich darstellen. Und wo er einmal dabei war, hat er auf einer Seite
mit Halloween-Masken gleich noch einen Pinhead (aus "Hellraiser") untergebracht.
Man kann ja nie genug werben.
Wenn man also ein Geschenk für einen Jungen oder ein Mädchen
mit starken Nerven im entsprechenden Alter sucht, oder falls man selbst
der etwas gemäßigteren Variante des Horrors, die ohne Splattereffekte
auskommt, zugetan ist, so ist dieses Buch genau richtig.
[The Thief of Always, © Clive Barker 1992, übersetzt von Eva
L. Wahser 1995, 237 Seiten, DM 29.80, Hardcover mit Schutzumschlag]
SX 63
Kommentare
Kommentar veröffentlichen