Clive Barker: Imagica
Clive
Barker: Imagica
(Heyne Jumbo 41/49)
Selten hat sich meine Einstellung zu einem Buch während der Lektüre
so gewandelt wie bei diesem. Eine gewisse Rolle spielte dabei auch - wieder
einmal - der Klappentext, der meiner anfänglichen Meinung nach zu
Unrecht auf Tolkien verweist: "Ein modernes Gegenstück zu Tolkiens
.Herr der Ringe..". Mir schien es zu Anfang, es sei geradezu vermessen,
dieses Buch mit Tolkiens Werk zu vergleichen. Doch jetzt, nachdem ich es
endlich zuende gelesen habe, bin ich nicht mehr dieser Ansicht.
Natürlich ist "Imagica" etwas völlig anderes als "Herr der
Ringe". Schon weil ungefähr vierzig Jahre zwischen den beiden Werken
liegen. Man kann nicht einmal sagen, daß es sich bei "Imagica" um
Fantasy im Stile von Tolkien handelt. Aber was Tolkien und Barker
gemeinsam haben, ist eine enorme Komplexität der geschilderten Welt.
Orte, Hintergründe, Historien, Mythen und eine Menge handelnder Personen
weben ein dichtes Gespinst einer Geschichte - einer sehr dramatischen Geschichte
- die hier erzählt wird.
Deshalb stimme ich jetzt nach dem Lesen dem Klappentext in dieser Hinsicht
zu. Man kann dieses Werk durchaus in seinen "Ausmaßen" mit dem Klassiker
vergleichen.
Ich bin angesichts dieses Buches jedoch ein wenig hilflos: Ich weiß
nicht recht, was ich schreiben soll, um dem Inhalt auch nur annähernd
gerecht zu werden. Übrigens eine weitere Parallele zu Tolkien. Ich
würde nie versuchen, "Herr der Ringe" zu rezensieren oder zu analysieren.
Genauso entzieht sich auch "Imagica" einer Analyse; zumindest traue ich
mir nicht zu, wirklich tiefgreifend und umfassend auf das Buch einzugehen.
Aber einige Aspekte werde ich versuchen, hier anzusprechen.
Zuerst das Genre. Clive Barker ist als Horror-Autor wohlbekannt ("Cabal",
"Hellraiser" usw.), das vorliegende Buch kann man jedoch nicht in diese
Sparte einordnen, sondern es gehört eindeutig zur Fantasy. Allerdings
benutzt Barker natürlich sein altes Nähkästchen und läßt
auch das Blut schön reichlich spritzen. Diese Szenen, in denen Menschen
und Wesen quasi beiläufig aufgeschlitzt und zerstückelt werden,
sind wohl nichts für zarte Gemüter. Trotzdem ist das Buch inhaltlich
ein Fantasy-Roman, daher der Vergleich mit Tolkien und nicht mit King.
Nun zu Inhalt und Handlung (aber nur kurz). Imagica, das sind fünf
Welten, bzw. Domänen, von denen vier verbunden sind, so daß
man durch eine Art Dimensionstor hin und her reisen kann. Die fünfte
Welt ist die Erde und die ist aus bestimmten Gründen von den anderen
getrennt, obwohl man mit einigen Schwierigkeiten dennoch zu den anderen
Domänen reisen kann. Wie zu erwarten, spielt die Magie eine große
Rolle. Es ist nicht so, daß sie auf der Erde nicht funktioniert,
nur hat eine Gruppe von fehlgeleiteten Finsterlingen - die Tabula Rasa
- vor 200 Jahren alle Magier (Maestros) ausgerottet.
Fast alle. Aber halt, ich will nicht zu viel verraten. Jedenfalls ist
das Hauptziel der meisten handelnden Personen die sogenannte Rekonziliation,
das Wiederzusammenführen der fünf Domänen. Vor 200 Jahren
scheiterte der letzte Versuch, jetzt rückt die Zeit heran, wo es wieder
einmal möglich ist.
Gentle, die Hauptfigur, ist ein erfolgloser Maler und Kopist, außerdem
ein schlimmer Weiberheld. Dem Leser fällt schnell auf, daß mit
ihm irgendetwas nicht stimmt, er leidet an Gedächtnisschwäche,
so daß er sich immer nur an die letzten 10 Jahre erinnern kann. Genauso
Judith, eine seiner Geliebten... Jedenfalls begibt er sich zusammen mit
einem seltsamen geschlechtslosen (oder hermaphroditischen?) Wesen nach
allerlei anfänglichen Verstrickungen auf eine Reise durch die Domänen.
Dies sieht auf den ersten Blick wie die typische Quest aus, ist sie
aber nicht. Die Reise dient, wie später zu erkennen ist, der Selbstfindung
Gentles, nicht der Rekonziliation. Es kommen noch eine ganze Reihe von
Problemen dazu, so zum Beispiel ein (oder der?) Gott, der sich in der Ersten
Domäne versteckt hält, gestürzte Göttinnen, ungewollt
und gewollt erzeugte Doppelgänger und vieles mehr.
Am Ende wird alles immer rasanter, dann stellt sich aber heraus, daß
wieder einmal nichts so war, wie es schien und alles läuft auf etwas
ganz anderes hinaus. Vor allem die zweite Hälfte des Buches ist sehr
spannend und überzeugend in der Figurendarstellung. Im ersten Teil
störte mich etwas an der Charakterisierung von Gentle, der sich nicht
immer ganz logisch verhielt.
Ein wenig befremdlich kam mir die Darstellung der Welt vor, ich kann
nicht sagen, ob das auf ein Unvermögen Barkers zurückzuführen
oder Absicht ist. Die anderen Domänen sind nicht einfach andere Welten
oder Planeten, sie erscheinen als viel bizarrere Konstruktionen, was ihnen
einen irrealen Anstrich gibt. So wird z.B. die wichtigste Domäne nicht
von einer Sonne, sondern von einem Kometen beleuchtet, der auf und unter
geht! Aber was ich eigentlich mit befremdlich meine, die Welten sind klein
- es wird auf einige Städte und Landstriche Bezug genommen, die aber
nicht das Gefühl erwecken, es handele sich hier um eine ganze eigene
Welt. Im Gegenteil - Gentle durchwandert die vierte bis zweite Domäne
in einigen Monaten zu Fuß! Dieser eingeengte Blickwinkel setzt sich
sogar auf der Erde fort: Die fünfte Domäne scheint im wesentlichen
aus London zu bestehen, alles andere spielt einfach keine Rolle.
Ein weiterer Aspekt des Buches nimmt in ihm so viel Raum ein, daß
er hier nicht unerwähnt bleiben kann. Barker ergeht sich sehr oft
in Schilderungen, die das Werk wohl noch vor einiger Zeit als pornografisch
klassifiziert hätten. Mir erschien es nicht ganz glaubwürdig,
daß sich der Held - seiner Wichtigkeit für die Rekonziliation
wohl bewußt - dennoch in tragischer Weise durch sexuelle Gelüste
von seiner Aufgabe ablenken läßt. Barker weiß die entsprechenden
Szenen sehr detailreich zu schildern.
Die Beziehungen zwischen Mann und Frau (oder Mann und Wesen, wie bei
Gentle und seinem seltsamen Begleiter) nehmen ohnehin im Buch eine zentrale
Stellung ein. Barker vertritt dabei eine Position, die man eher einer Marion
Zimmer-Bradley zuschreiben könnte. Scheinbar stehen sich das Weibliche
und das Männliche rein antagonistisch gegenüber, wahre Liebe
wird im Buch nur zwischen Gentle und dem Hermaphroditenwesen Pie bzw. zwischen
zwei Homosexuellen vorgeführt. Wenn "normalere" Beziehungen geschehen,
so haben sie immer den Beigeschmack des Betruges an der Frau oder gar der
Vergewaltigung. Am Ende des Buches erhoffen sich einige Frauen Kinder,
"ohne sich dazu mit Männern einlassen zu müssen." Vermutlich
durch Windbestäubung oder so. Es scheint mir ein wenig übertrieben,
das männliche Prinzip als das der Zerstörung und das weibliche
als sein genaues Gegenteil zu polarisieren. Dialektik fehlt an dieser Stelle.
Wenn diese Sache nur eine untergeordnete Bedeutung für das Werk
hätte, könnte man darüber hinwegsehen, doch sie spielt sogar
eine zentrale Rolle. Ich konnte mich Barkers Philosophie, daß das
Gehirn der Menschen zwischen ihren Beinen sitzt, nicht anschließen.
Nun habe ich doch Ansätze zu einer Analyse versucht. Um es noch
einmal zu sagen: Das Werk entzieht sich einer umfassenden Analyse durch
jemanden, der kein Psychologe oder zumindest Literaturwissenschaftler ist.
Was ich andeutete, ist nur die Oberfläche. Barker greift viel mehr
auf und geht viel tiefer, als es meine Ausführungen vielleicht erscheinen
lassen. Vieles ist auch in Symbolen oder Begriffen versteckt. Überhaupt
ist die Sprache Barkers recht anspruchsvoll. Nehmen wir nur den Namen "Imagica",
in dem natürlich Imagination, Vorstellungskraft steckt. Oder Gentle
- der Sanfte. Seine Mutter, Celestine, die Himmlische... Man muß
das Buch aufmerksam lesen und sich von ihm zum Nachdenken anregen lassen.
"Imagica" kann man zweifellos als ein großes Werk bezeichnen.
Meine obige Kritik ist sicher mehr oder weniger eine Geschmacksfrage. Das
Buch ist spannend erzählt, enthält viel Nachdenkenswertes und
einige interessante Interpretationen geschichtlicher und religiöser
Dinge. Es lohnt sich, den massiven Wälzer zur Hand zu nehmen.
["Imagjica", Clive Barker 1991, übersetzt von Andreas Brandhorst
1993, 835 Seiten, DM 36,-]
SX 45
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