Greg Bear: Äon / Ewigkeit
Der
"Thistledown-Zyklus"
Greg Bear: Äon / Ewigkeit
(Heyne 06/4433 & 4916)
gelesen von Wilko Müller jr.
Ob man zwei Bücher schon einen Zyklus nennen kann, sei dahingestellt
- vielleicht hat Greg Bear auch weitere Romane angekündigt. Allerdings
scheint das hinsichtlich der Handlung nicht ganz glaubhaft.
"Äon" ist bereits neun Jahre alt, und auch "Ewigkeit" (1988) erschien
deutsch schon 1992. Da ich den zweiten Band erst jetzt lesen konnte, führte
ich mir den ersten nochmals zu Gemüte. Das sollte man auf jeden Fall
tun, denn sonst bleibt die Fortsetzung wahrscheinlich über weite Strecken
unverständlich. So etwas ist natürlich manchmal schon ein Grund,
die beiden dicken Bände gleich im Regal stehen zu lassen.
Aber sehen wir uns den Inhalt an. "Thistledown" - ein Wort, dessen
Übersetzung möglicherweise Disteldaune heißen könnte,
was immer das nun wieder bedeuten mag - das ist der umgewandelte Asteroid
Juno. Eine zukünftige Menschheit eines Paralleluniversums hat ihn
in ein Riesenraumschiff verwandelt, das jedoch nie sein ursprüngliches
Ziel erreichte, sondern von einem der Wissenschaftler an Bord in etwas
ganz anderes weiterentwickelt wurde. Man öffnete mit Hilfe einer gewaltigen
Apparatur "den Weg", ein immaterielles Raumzeitkonstrukt, ein schlauchförmiges
Universum für sich, in das die Bewohner von Thistledown eindrangen
und schließlich übersiedelten. Vom Weg aus konnten sie Tore
zu verschiedenen anderen Welten bzw. Universen öffnen, mit denen sich
reger Handel und erbitterter Krieg entwickelten.
Durch die Aktivierung des Weges, der an einem Ende der Thistledown
beginnt, wurde diese in unser Universum der nahen Zukunft geschleudert,
wo sie als "der Stein" im Orbit der Erde auftaucht.
Da beginnt "Äon" mit der Erforschung des anscheinend verlassenen
Objektes. Verschiedene Protagonisten tragen die Handlung, die sich in Sprüngen
über mehrere Jahre erstreckt, um sich dann zu stabilisieren.
Im weiteren tauchen die Bewohner der den Weg befahrenden Achsenstadt
wieder auf, die Konstrukteure des über tausend Jahre alten Riesenraumschiffes;
der dritte Weltkrieg vemichtet die Erde, die Gegner der Menschen im Weg
starten eine Offensive. Ich will hier nicht weiter auf die Handlung eingehen.
Die Idee der Paralleluniversen gehört ja zum Repertoire der SF.
Nur die Frage der Gestaltung dieser Idee ist es, welche dem Geschick des
Autors überlassen bleibt. Der Gedanke des Weges ist offenbar neu gewesen,
als Bear "Äon" präsentierte. Er verbindet außerdem diese
Idee mit einer anderen - mit der Vorstellung von der Hohl- bzw. Zylinderwelt.
Allerdings weisen die beiden Romane hier eine Schwäche auf. Bis auf
wenige Äußerlichkeiten geht der Autor nicht auf die Besonderheiten
einer derartigen Welt ein. Die Umgebung wird kaum detailliert beschrieben.
Die Handlung läuft ab, als könnte sie auch auf einer ganz normalen
Weit geschehen.
Das größte Problem, vor dem die Personen im ersten Teil
stehen, ist das Wissen vom bevorstehenden Weltkrieg, das sie aus einer
Bibliothek Thistledowns haben. Umgeben von einer unglaublich verschärften
Geheimhaltung, strengsten Sicherheitsmaßnahmen und völliger
Abschirmung versuchen die Wissenschaftler, das Geheimnis der Thistledown
zu lösen. Auf der Erde eskaliert indessen das politische KlIma von
kalt zu eisig, so daß schließlich der Krieg kommt, wie er scheinbar
kommen muß. Die Insassen "des Steins" sind plötzlich auf sich
gestellt.Nicht die scheinbare Unausweichlichkeit einer möglichen Zukunft
ist es, die der Autor hier vor uns ausbreitet - später wird klar,
daß es durchaus Alternativen gibt. Die Vernichtung von Milliarden
Menschenleben hat genaugenommen für die Handlung nur den Zweck des
Spannungsmoments. Zudem sind die politischen Verhältnisse, die er
schildert, natürlich längst überholt. Man merkt deutlich,
daß der Roman auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges entstand.
Die Russen sind die Erzbösewichter, welche in ihrer sehr plakativ
herausgestellten stumpfsinnigen Borniertheit die Welt zweimal mit einem
Atomkrieg überziehen.
Bis zur Personenzeichnung (mit einer Ausnahme) zieht sich diese antirussische,
oder antikommunistische, Grundhaltung Bears. Die Russen, die natürlich
eine militärische Invasion des Steins starten (sie nennen Ihn Kartoffel),
sind entweder ungebildete, fanatisierte Bauerntölpel oder fanatische
Politbürokraten. Die eine Ausnahme ist Pavel Mirsky, der letzte Kommandeur
der Russen. Er ist eine undurchsichtige Gestalt, deren Motivation nicht
erkennbar wird. Scheinbar ist er vom Fanatismus nicht angesteckt, dennoch
gibt er sich als typischer Militarist - Befehlsempfänger ohne eigenes
Denken. Erst nach seinem Erleben der Bibliothek Thistledowns verändert
er sich, ohne für den Leser allerdings durchschaubarer zu werden.
Das setzt sich im zweiten Teil fort, wo seine Rolle noch unklarer wird.
Viel mehr Identifikationsfigur ist da schon Garry Lanier, eine führende
Persönlichkeit bei der Erforschung der Thistledown. Er ist der Charakter,
der immer Mensch bleibt, was ihm auch zustößt. Neben ihm gibt
es noch die geniale Wissenschaftlerin Patricia Vasquez, bzw. im zweiten
Teil deren Enkelin. Auch die Erlebnisse dieser beiden Figuren, hauptsächlich
auf einer Parallelwelt der Erde, kann man mit Spannung verfolgen.
Die dritte Ebene bilden Personen aus der Achsenstadt, dem sogenannten
Hexamon. Der Träger ist hier hauptsächlich ein Mann namens Olmy.
Die Menschen des Hexamons sind schon deshalb interessant, weil sie mit
uns physisch und psychisch kaum noch etwas gemein haben. Ein paar tausend
Jahre Entwicklung und vor allem der Weg haben sie stark verändert.
Zwischen dieser Figurenkonstellation entwickelt sich nun die Handlung,
die im ersten Teil noch recht dynamisch abläuft. Verschiedene Spannungsmomente
sorgen für Aktion und Gefahr. Im zweiten Band jedoch verlagert sich
das Geschehen deutlich ins Philosophische, wenn nicht gar Mystische. Die
zur Erde zurückgekehrten Hexamon-Leute versuchen, die Folgen des Nuklearkrieges
zu mildern, selbst für sie ein Unterfangen, das ans Unmögliche
grenzt. Während sich im Hexamon eine politische Gruppe bildet, die
damit aufhören und in den Weg zurück will, taucht plötzlich
Pavel Mirsky auf der Erde auf. DerRusse war zuvor mit einem anderen Teil
des Hexamons mit Fast-Lichtgeschwindigkeit in den Weg hineingeflogen .
Nun stellt er so etwas wie einen Abgesandten vom Ende des Universums dar,
eines Überwesens oder Weltgeistes... Er versucht, die Menschen dazu
zu bringen, den Weg ganz zu demontieren.
Dieser Aspekt des zweiten Romans stellt schon hohe Anforderungen an
die Geduld des Lesers, da man mit den vagen, nebulösen Schilderungen
dessen, was in unvorstellbar ferner Zukunft mit dem Weg und allen intelligenten
Lebensformen geschieht, wenig anfangen kann. Der Weg wird am Ende tatsächlich
wieder geöffnet und sein Zerfall angeregt. Daran besteht auch kaum
Zweifel.
Etwas nebenher laufen zwei weitere Handlungsstränge, die zumindest
ein wenig Spannung erzeugen. Rhita, die Enkelin der in eine Parallelwelt
geratenen Patricia, versucht erfolgreich, von dieser Welt mit Hilfe eines
Gerätes ihrer Großmutter ein Tor in den Weg zu öffnen.
Das stellt sich jedoch als furchtbarer Fehler heraus. Die Jarts, die alten
Todfelnde der Menschheit im Weg, kommen auf ihre Welt und vernichten sie.
Sie "speichern" sämtliche lebenden Menschen in einer Art Computermatrix,
was darauf hinausläuft, daß sie sie töten - obwohl sie
das keineswegs so sehen.
Olmy, der jahrhundertealte Hexamon-Mensch, findet das gespeicherte
Bewußtsein eines Jart und speist es in seine eigenen Himimplantate
ein, um es zu erforschen. Auch das scheint fatal zu sein, denn der Jart
übernimmt ihn trotz aller Vorsichtsmaßnahmen. Letztlich hilft
dieses Ereignis aber bei der Kontaktaufnahme.
Diese Nebenhandlungen reichen jedoch nicht aus um "Ewigkeit" zu einem
wirklich spannend zu lesenden Buch zu machen. Und nach allem Schrecken,
den Greg Bear auf seine Leser losläßt, konstruiert er auch noch
ein Happy End! Das Überwesen Mirsky bringt die Jarts dazu, zumindest
Rhitas und Patricias Träume zu erfüllen und ihnen ihre Welten
heil und unversehrt zurückzugeben (wenn es auch bloß Parallelwelten
von Gaia und Erde sind).
Auf einen für mich ärgerlichen Umstand muß ich hier
noch eingehen. "Äon" wurde von Reinhard Heinz übersetzt, "Ewigkeit"
von Winfried Petri. Herr Petri scheint sich jedoch nicht die Mühe
gemacht zu haben, den ersten Teil einmal zu lesen. Sein "Ewigkeit" wimmelt
auf Schritt und Tritt von Widersprüchen zu "Äon". Es gibt in
jedem Buch bestimmte werksspezifische Ausdrücke. Hier handelte es
sich sogar um Begriffe, die eine zentrale Rolle spielten, sich also sofort
einprägen. Ursprünglich spricht man z.B. vom "Defekt" oder einer
Singularität, wenn es um die zentrale Längsachse des Weges geht.
Demzufolge heißen die Fahrzeuge, die an dieser Erscheinung entlanggleiten,
Defektschiffe. Bei Petri wird daraus eine "Fehlstelle", später ändert
er seine Meinung und übersetzt es als "Sprung" - also gibt es Sprungschiffe.
Daß dabei überhaupt nichts springt, interessiert ihn nicht.
Oder die Übersetzung "Schelm" für ein immaterielles Konstrukt
des Stadtgedächtnisses - sie macht Petri zum "Schurken". Und schließlich
ein drittes Beispiel, das mir sehr auf die Nerven ging. Im ersten Teil
öffnet Patricia ein Tor mit einem "Klavikel". Im zweiten Teil nennt
man dieses Gerät unsinnigerweise ein "Schlüsselbein". Das englische
Wort "clavicle" heißt natürlich Schlüsselbein, aber das
ist doch ein anatomischer Begriff! Bears Verwendung bezieht sich auf die
Wortassoziation zu Klaviatur, nicht auf irgendeinen Knochen.
Genug geschimpft, obwohl ich diese Liste noch fortsetzen könnte.
Vor allem der zweite Band stellt keine leichte Lektüre dar. Die
Philosophien kosmischer Dimension, die Greg Bear hier andeutet, sind gar
zu kosmisch. Andererseits kommt er wieder auf eine menschliche Ebene zurück,
indem er zeigt, daß selbst die sehr viel fortgeschritteneren Menschen
des Hexamons denselben kleinlichen politischen Zwängen unterworfen
sind wie die heutige Gesellschaft. Nicht gerade eine optimistische Botschaft.
Die Romane sind noch ein wenig vielschichtiger, als ich hier darstellen
konnte. Man findet eine Reihe von Gedanken und Problemen, die mehr oder
weniger angerissen oder ausgearbeitet wurden, ich glaube, daß man
beide Teile einmal lesen sollte, wenn man sehr viel Zeit und Muße
hat.
Aber wann kommt das schon mal vor?
[Eon, Greg Bear 1985. übersetzt von Reinhard Heinz 1987, 601 Seiten,
DM 14,80]
[Eternity, Greg Bear 1988, übersetzt von Winfried Petri 1992,
555 Seiten, DM 16,80]
SX 49
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