James Herbert: Erscheinung

Alice in England
James Herbert: Erscheinung
(Heyne 01/8666)


Die Geschichte ist wohl fast so alt wie die Horror-Literatur selbst. Da wurde vor ein paar hundert Jahren im durch nichts auffallenden englischen Banefield eine Hexe verbrannt, die den Ort natürlich auch angemessen verfluchte. Und heute kommt sie wieder, um sinnloserweise an Leuten Rache zu nehmen, die überhaupt nichts für ihr Schicksal können. Bestenfalls sind jene heutigen Leute von ihren eigenen Sünden geplagt, die sie durch die Reinkarnation der Hexe nun sühnen. Aber meistens sind es nur harmlose Unschuldige. Dieser scheinbare Widersinn hindert die Horror-Autoren und -Filmemacher nicht daran, ihn immer wieder aufzugreifen. Ist es doch gerade die Katastrophe, das Unheil, welches Unschuldige trifft, das den größten Horror verursacht, der uns selbst unsere eigenen Ängste vor Augen führt. Zwar fürchten wir uns kaum vor dem plötzlichen Auftauchen alter Hexen und ähnlicher Spukgestalten, aber es gibt genug realen Schrecken in dieser Welt, der unverhofft über uns hereinbrechen kann.
Also kann man nichts gegen das Thema von James Herberts 1983er Roman sagen. Zumal er es recht gekonnt umsetzt und nicht gleich alles erahnen läßt, was sich am Ende an Grauenvollem offenbart.
Wir haben es allerdings wieder einmal mit der schönen Standard-Rollenbesetzung zu tun. Alice ist ein kleines, taubstummes Mädchen von elf Jahren, das plötzlich eine Vision der Mutter Gottes hat und wieder sprechen und hören kann. Im weiteren entwickelt sie sich zu einer Wunderheilerin und der Ort zu einer Pilgerstätte. Gerry Fenn ist ein zynischer, völlig ungläubiger Journalist (stöhn!), der die Sache von Anfang an miterlebt und darüber berichtet - freilich ohne an Wunder und religiösen Kram zu glauben, bis er eines besseren belehrt wird. Dann gibt es noch zwei gute Pater, so ähnliche Figuren wie in "Der Exorzist", aber eigentlich eher keine Exorzisten. Diverse andere Gestalten rennen noch durchs Bild, sind aber nicht viel mehr als Füllung.
Die Kirche betrachtet die immer mehr auftretenden Wunder um Klein Alice mißtrauisch, man ist als Leser geneigt, die Kirchenbürokraten für ziemlich beschränkt zu halten, weil gerade sie das Offensichtliche nicht zu sehen scheinen. Man bringt Alice sogar in ein Kloster, weil sie angeblich vor den Aufregungen geschützt werden soll, was ihr aber gar nicht gefällt. Eine Zeitlang dachte ich, man würde eine tatsächliche Heilerin - egal, woher sie ihre Fähigkeiten hatte - für besessen erklären und irgendwie vernichten, weil die Kirche die Existenz von Wundern, die sie nicht "genehmigt" hat, nicht duldet. Aber so kam es nicht. Entgegen der sonstigen zurückhaltenden Politik der Kirche wird die Angelegenheit durch einen ehrgeizigen Würdenträger forciert. Und gerade als sich der kleine Ort zu einer Wallfahrtsstätte zu entwickeln beginnt, als alles so schön und heilig sein könnte, erscheinen die ersten Mißtöne. Alice sieht für den Leser plötzlich eher wie Carrie aus, Leute sterben, eine Tankstelle explodiert. Das Gefühl des Bösen verdichtet sich, und erst jetzt beginnt der Journalist Fenn im Auftrag eines der beiden Pfarrer mit historischen Nachforschungen. Als er die Sache mit der Hexe entdeckt, ist es jedoch schon zu spät. Die Katastrophe bricht herein.
In der Dichte der Handlung nicht zu erkennen war eine deutliche Haltung James Herberts zur katholischen Kirche, zum Hexenwahn im Mittelalter und all jenen Dingen, die er zwar anspricht, aber nicht wertet. Das Grauen, das scheinbar aus der Vergangenheit hervorbricht, wird nicht erklärt. Im Nachhinein scheint sich das meiste nur in den Köpfen der beteiligten Menschen abgespielt zu haben, was nichts daran ändert, daß hunderte von ihnen tot sind. Fast scheint der Autor das zu Tode foltern und Verbrennen der "Hexe" im 16. Jahrhundert gutzuheißen. Das Konzept der Sünde aus dem Mittelalter läßt er in der Gegenwart gelten, ohne es zu hinterfragen. Die Gründe für die späteren Geschehnisse werden kaum ausgelotet, statt sie eindeutig menschlichen Schwächen und Motivationen zuzuordnen, die zumindest erkennbar sind, werden Abstrakta wie das Gute, der Glaube und das Böse eingeführt.
Auch offensichtlich vorliegende Verbindungen in die schöne, mystische vorchristliche Zeit Englands führt Herbert nicht weiter. Das Ende ist daher irgendwie unbefriedigend. Nicht zuletzt, weil angedeutet wird, daß es doch noch eine richtige Erscheinung der Jungfrau Maria gegeben hat, die jedoch nur ein kleiner Junge und Fenn sahen. Vermutlich verhinderte Herberts eigene (von mir angenommene) Religiösität eine klarere Aussage. Einmal von den ziemlich gut gemachten Horrorszenen und Spannungsbögen abgesehen, kann ich ihm in der Frage des Glaubens und kirchlicher Dogmatik nicht folgen. Die Definitionen der Begriffe Sünde und andererseits Unschuld sind etwas so menschliches, so gesellschaftlich und historisch determiniertes, daß sie eigentlich völlig sinnleer sind. Auch und gerade im Zusammenhang mit einer angeblichen höheren Macht.
Trotz dieser Mängel ist "Erscheinung" ein sehr spannender, handwerklich gut gemachter Roman, den zu lesen Spaß (pardon: Grusel!) bereitet. Die vielen kleinen Zitate aus "Alice im Wunderland" und einer Reihe anderer Quellen tun ein übriges, um eine gewisse Atmosphäre zu schaffen.

[Shrine, © James Herbert 1983, übersetzt von Rolf Jurkeit 1985, 400 Seiten, DM 9.80]
 
SX 65


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