John Barnes: Eine Million Offener Tore

John Barnes: Eine Million Offener Tore
(Heyne 06/5421)


Seit ich auf einer Fischbüchse das Verfallsdatum 2199 gelesen habe, weiß ich, daß die Zukunft nicht mehr fern sein kann.
Aber im Ernst. Ich habe mir, während ich das Buch, um das es hier gehen soll, las, verschiedene Einstiege in diese Rezension überlegt, und keiner hat mich befriedigt. Die meisten habe ich ohnehin vergessen. Die Zukunft, in der das Buch handelt, ist offensichtlich sehr fern. Denn die Menschheit hat bereits etwa tausend Welten besiedelt und terraformt, obwohl ihr kein Hyperantrieb oder so etwas zur Verfügung stand. Auf den einzelnen Welten haben sich nun die verschiedensten Kulturen entwickelt. Man muß allerdings sagen, daß die meisten dieser Kolonie-Kulturen künstlich zu sein scheinen. Jemand konstruierte sie buchstäblich, damit sie auf die zu besiedelnde Welt paßten. Das ging bis zur bewußten und massiven Geschichtsfälschung. Das ist jedoch nicht Thema des Romans.
Nachdem sich also die Kolonien lange unabhängig entwickelt haben, "erscheint aus dem Nichts" der Springer. Mehr wird tatsächlich nicht über die Entdeckung der neuartigen Technologie der Teleportation mit (anscheinend) unbegrenzter Reichweite ausgesagt. Vermutlich auf der Erde entdeckt, breitet er sich rasant aus. Seltsam mutet allerdings die Bemerkung an, daß die Physik zu dem Zeitpunkt eine praktisch aufgegebene Wissenschaft gewesen sei... Eine Zufallsentdeckung?
Die Folgen für die interstellare Menschheit sind klar: Plötzlich ist der Kontakt zwischen allen Kulturen wieder möglich. Jedenfalls, wenn sie von einem der Schiffe erreicht worden sind, die ihnen die Springer bringen, und den Schock überstanden haben.
Und genau darum geht es: um den Kulturschock.
Der sogenannte Humanitäre Rat (möglicherweise eine schlechte Übersetzung) kontrolliert nach der Einführung der Springertechnik, ob die Gesellschaft und Wirtschaft des entsprechenden Planeten den Kontakt auch verkraftet. Interessant ist, daß jede ehemalige menschliche Kolonie den Kontakt auch akzeptieren muß, ob sie will oder nicht. Eine selbstgewählte Isolation ist nicht möglich. Der Rat ist vor allem darauf bedacht, die Menschheit beieinander zu halten.
Die Welt Okzitan (eigentlich wohl Wilson, aber das ist nur der Name des Planeten, nicht der der Kultur) hat den Prozeß der Eingliederung schon fast hinter sich. Auf Kaledonien (eigentlich Nansen) fängt man damit erst an. Nun wird es kompliziert. Schildert doch der Roman nichts weniger als den Zusammenprall zweier völlig fiktiver und künstlicher Kulturen, die nichtsdestotrotz so voller Leben sind, daß dieser Zusammenprall voller Dramatik abläuft. Man muß zumindest einige Stichworte über die Kulturen verlieren.
Okzitan beruht auf der Vision einiger unverbesserlicher Romantiker, welche die Welt der mittelalterlichen Minne mit der hochtechnologischen Gegenwart koppelten. Die Helden duellieren sich u.a. mit Degen, die durch Neuroinduktion Wunden und sogar den Tod simulieren können. Es wird allerdings gezeigt, daß sie dabei nicht ungefährlich sind. Im Gegenteil. Was man mit den Spielzeugen anfangen kann, gerät zu unglaublicher Grausamkeit. Und man kann natürlich sterben. Am Schock zum Beispiel...
Auf der anderen Welt herrscht eine religiöse Gruppe, die ihre Untertanen in schlimmer Weise unterdrückt und manipuliert. Es ist einfach häßlich, das zu lesen. Und leider dabei nicht mal übertrieben oder unglaubwürdig. Die Religion kommt in diesem Roman wieder einmal sehr schlecht weg.
Es werden nun ein paar Leute von Okzitan - darunter auch ein ehemaliger Kaledonier - aufgefordert, bei der Einführung des Springers in Kaledonien als eine Art Botschafter zu helfen. Der Hauptheld Giraut ist dabei der Erzähler. Das Urteil über seine Kultur wird dem Leser überlassen, der ihn quasi beobachtet. Giraut wiederum reflektiert auf seine Weise den Kontakt mit dem restriktiven und fanatisierten Kaledonien. Selbstverständlich macht er, wie auch die anderen Personen in der Gruppe, eine tiefgreifende Wandlung durch. Darauf reagieren zurückgebliebene Freunde mit Unverständnis und Ärger, was den tiefen Widerspruch noch deutlicher macht.
An beiden Kulturen zeigt Barnes nicht etwa mit erhobenem Zeigefinger irdische Zustände auf; sie sind vollständig konstruiert und fremdartig. Es ist zwar eine kühne Hypothese, daß man eine menschliche Kultur durch Falschinformation und Isolation auf einen so seltsamen Weg bringen kann, aber sie ist im Rahmen des Buches recht überzeugend.
Anfangs ist das Lesen ein wenig schwierig, da im Text eine Menge okzitanischer Begriffe und Wendungen eingearbeitet sind. Der Übersetzer merkte dazu an, daß das Okzitanische eine romanische Sprache sei, die früher in Südfrankreich gesprochen wurde. Auch die Sprache auf dieser Welt ist also beinahe künstlich. Ein Wortverzeichnis am Anfang des Buches hilft, sich mit den fremdartigen Aussprüchen zurechtzufinden.
Es sind zwar zwei menschliche Kulturen, die hier aufeinanderstoßen, aber ebensogut hätten es auch Aliens sein können. Diese Konstellation ist es, die den Reiz des Romans ausmacht. Barnes erforscht in seinem Gedankenspiel nicht nur, wohin sich Menschen kulturell entwickeln könnten, wenn die Bedingungen gegeben sind - und ohne in Klischees von einfach nur übertriebenen, gegenwärtigen Zuständen zu verfallen - er zeigt auch am Beispiel von zunächst nur einigen Menschen, was bei der erneuten Zusammenführung passieren kann.
Auf Kaledonien reagiert das repressive und diktatorische System logischerweise am extremsten. Es kommt zum Putsch der konservativsten religiösen Kräfte, der die Helden nicht nur in Gefahr bringt, sondern auch Opfer kostet. Erst das Eingreifen des Humanitären Rates kann das Schlimmste verhindern.
Das Thema des Buches gäbe durchaus noch Fortsetzungen her, jedoch handelt es sich bei den drei weiteren, bei Heyne angekündigten Romanen des Autors offenbar nicht um mit diesem inhaltlich zusammenhängende Werke. Wenn man allerdings von der Qualität des vorliegenden Buches ausgeht, sollte man diese Titel vielleicht auch nicht verpassen.
 

A Million Open Doors, (c) by John Barnes 1992, übersetzt von Hilde Linnert 1996, 399 Seiten, DM 14.90 

SX 76

 

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