John Varley: Millennium

John Varley: Millennium
(Sphere Books Ltd.)


Unter dem dümmlichen Titel "Millenium: eine Jahrtausendliebe" präsentierte Bastei 1985 einen der brutalsten SF-Romane, den ich zu lesen je das Vergnügen hatte. Mit Liebe hat das Buch nämlich am allerwenigsten zu tun. Zum Glück fiel mir das Original in die Hände, so daß die Abschreckungstaktik der deutschen Literaturindustrie bei mir nicht fruchtete.
John Varley gilt "als eine der wichtigsten Entdeckungen der siebziger Jahre" (Heyne-Lex), und ich war erstaunt, von ihm noch nichts gehört zu haben. Die Gäa-Trilogie ist bei Heyne erschienen, andere Bücher bei Goldmann. Wenn sie alle so gut sind wie "Millennium", muß ich mich doch echt mal danach umschauen. Dieser Roman ist, wie man auf seinem Umschlag lesen kann, inzwischen verfilmt worden. Allerdings weiß ich nicht so recht, ob ich das, was in ihm beschrieben wird, auch wirklich sehen möchte. Wenn es so ist, wie im Buch, müßte man sich auf einiges gefaßt machen. Im neuen Filmlexikon steht allerdings, daß der Film recht langweilig geraten ist. Aus einigen Bemerkungen in der Kurzdarstellung kann man ersehen, daß sich die Produzenten nicht besonders genau an das Buch gehalten haben können.
"Millennium" ist - wie Kundige schon an dem Titel ersehen können - ein Zeitreisebuch. Und es ist ein besonderes Zeitreisebuch, jedenfalls was seinen Aufbau angeht. John Varley erläutert in einem Vorwort, daß er, der langen Geschichte der Zeitreisebücher Tribut zollend, jedes seiner Kapitel nach einem solchen Buch oder einer Story benennen konnte. Wir finden Bradburys "A Sound Of Thunder", natürlich Wells' "The Time Machine" und Asimovs "The End of Eternity" neben vielen anderen. Und das sind nicht nur Namen, sondern die Titel passen zum Inhalt der Kapitel!
"Millennium" ist auch ein Katastrophenbuch der härteren Machart. Darum meine obigen Bedenken gegen den Film. Es geht nämlich um Flugzeugabstürze, genauer gesagt, um eine Kollision zweier Maschinen, in deren Folge über 600 Menschen den Tod finden. Einer der beiden Haupthelden ist ein Mitglied eines sogenannten go-teams, das sind jene Flugsicherungsleute, die die Untersuchungen am Ort des Absturzes durchführen. Er schildert in Form von "Aussagen" seine Erlebnisse, alternierend mit der anderen Heldin. Ich weiß nicht, ob sich viele Leute vorstellen können, wie der Ort einer solchen Flugzeugkatastrophe wirklich aussieht, wie viel 600 verbrannte, zerfetzte und zermalmte Leichen sind. Das Buch schaffte es jedenfalls, mir eine ziemlich deutliche Vorstellung zu vermitteln. Daß Bill Smith trinkt, wundert da keinen mehr.
Nun zur Zeitreise. Ein Einsatzteam aus dem 99. Jahrhundert geht der hektischen Beschäftigung nach, in den letzten Minuten vor einer Katastrophe deren menschliche Teilnehmer zu retten und durch lebende, aber geistlose Nachzüchtungen zu ersetzen. So auch an Bord der beiden Todesflüge. Dabei kommt es zu einem Zwischenfall, ein Artefakt bleibt zurück. Die Gefahr einer Zeitkatastrophe droht, und die zweite Heldin, Louise Baltimore - Chefin des Teams - muß einen Weg finden, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen.
Hübsch altbekannt, nicht wahr? Doch wer das glaubt, erlebt sehr bald eine scheußliche Überraschung. Die Leute aus der Zukunft retten Menschen nämlich nicht aus Nächstenliebe. Louise lebt in einer sterbenden Welt. Die Umwelt ist endlich durch neunzehn Atomkriege und des Menschen sonstige Künste, sie zu schädigen, soweit zerrüttet, daß jeder an unzähligen Krankheiten leidet, kaum älter als 30 wird und Kinder erst nach den zweiten Lebensjahr einen Namen bekommen - weil man sicher gehen will, daß sie dieses überleben (was sie nicht tun). Die aus der Vergangenheit "weggeschnappten" Menschen sollen auf einem anderen Planeten einen Neuanfang wagen, ob sie wollen oder nicht. Louise selbst ist zynisch. Sie tut ihren Job effizient und hart, sie hat keine Illusionen mehr und weiß, daß sie nur noch kurze Zeit leben wird. Trotzdem kämpft sie für die Weiterexistenz der Menschheit.
Man mag von der zynisch-vulgären Sprache dieses Romanteils genauso entsetzt sein wie von den offenen Schilderungen des Unfallortes im anderen Teil, es ist ein sehr eindrucksvolles Stilmittel. Louise hat keine Zeit für Beschönigungen. Sie ist eine harte Frau, aber keine Hollywood-Schönheit, wenn sie auch die Maske einer solchen trägt. (Wie mag man das im Film hinbekommen haben? Cheryl Ladd spielt sie dort wohl.) Obwohl diese Fakten ganz am Ende doch wieder in Frage gestellt werden, trägt sie offenbar eine zweite Haut über ihrer von Para-Lepra zerfressenen. Ich erwähnte ja schon, von angenehmen Bildern strotzt das Buch nicht gerade.
Der Roman beschreibt in abwechselnden Ich-Erzählungen Bill Smiths und Louises die Ermittlungen auf der einen und die Bemühungen der Zeitkorrektur auf der anderen Seite. Trotz mehrfacher Zeitsprünge gelingt es Louise nicht, die katastrophalen Veränderungen aufzuhalten, ihre Aktionen verschlimmern alles schließlich nur noch.
Man weiß nicht so recht wie, aber es endet dann doch noch alles fast gut. Na ja, die Menschheit ist zwar ausgerottet, aber was macht das schon. Man muß schon genau auf Zahlen achten, wenn einen der Schluß noch erschüttern soll. Der letzte Mensch starb in der geänderten Realität vor zehntausend Jahren, sagt ein Computer am Ende, und zwar im 99. Jahrhundert. Das heißt, noch vor dem Beginn unserer Zeitrechnung, oder der Geburt Christi, wie man besser sagen sollte!
Den Schluß verrate ich dennoch nicht ganz, denn allein schon er ist es wert, daß man die 216 Seiten liest. Nur noch ein Zitat: "Es war ein so schöner Garten, und sieh, was sie mit ihm gemacht haben, mit ihrem freien Willen."

Der Film zum Buch

Als ich die Rezi zu "Millennium" schrieb, ahnte ich nicht, daß der Film bald im Fernsehen laufen würde. Am 5.10. kam er im ZDF. So schlecht war er nun auch wieder nicht, wenn der Vorwurf der Langeweile nicht ganz unberechtigt ist. Es bietet sich bei einem Zeitreisethema ja an, bestimmte Szenen mehrfach zu zeigen, aber gerade das schaffte der Film nicht ausreichend spannend. Wenn man nicht genau aufpaßte, war nicht mal ein anderer Blickwinkel dabei zu bemerken.
Von der oben beschriebenen Härte war im Film gar nichts zu sehen, da sieht man in den Nachrichten mehr Leichen als in diesem Streifen. Überdies war es gerade life passiert: der Jumbo in Amsterdam. Ein Wunder, daß das ZDF in seiner manchmal komisch wirkenden Pietät den Film überhaupt brachte.
Im Gegensatz zu meinen oben geäußerten Erwartungen hielt sich der Film inhaltlich doch recht gut an das Buch. (Oder ist das ein Buch nach dem Film? Im Vorspann stand nur etwas von einer Story "Air Raid".)
Wenn es auch einige Abweichungen gab, so ist Louise als tatsächlich "letzte schöne Frau" der Zukunft dargestellt, die sich in Smith verliebt, aber das ist beim Verfilmen fast immer zu erwarten. Der Film verzichtet auf die Hintergründe, die ein Buch natürlich viel besser liefern kann, gänzlich. Dadurch erscheint die Motivation der Zukunftsmenschen doch etwas klischeehaft. Auch das von mir oben angedeutete überraschende Ende fehlt.
Einen Punkt im Film muß ich dennoch heftig kritisieren. Das ist der Roboter Sherman, bzw. seine Darstellung. Sie paßt überhaupt nicht in den Film. Diese Figur wird weder ihrer literarischen Vorlage gerecht, noch kann man sie ernst nehmen. Die Gestaltung des Roboters ist dermaßen kindisch, daß man glauben muß, die Produzenten hätten ihn vergessen gehabt und erst in letzter Minute doch noch mit aufgenommen.
Aber immerhin - es gibt doch wesentlich schlechtere Verfilmungen.

SX 32

 

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