Katherine Neville: Das Montglane-Spiel

Katherine Neville: Das Montglane-Spiel
(Heyne 01/8793)


Daß ich auf dieses Buch überhaupt aufmerksam wurde, verdanke ich Norbert Danziger, der es in seiner ersten Auflage gelesen hatte, und es einmal empfahl, als es um einen anderen Roman ging, der sich mit dem Schachspiel beschäftigte. Nun kam es als "Taschenbuch des Monats" erneut auf den Markt.
Zunächst hatte ich so meine Bedenken: "Das weibliche Gegenstück zu Umberto Ecos .Der Name der Rose.." und "Frauen in sämtlichen Hauptrollen" sowie "dieser Roman ist ein Kultbuch". Derartige Verzierungen des dunkelblauen Einbandes schreckten mich schon vor der ersten Seite. Zum Glück las ich das Buch trotzdem.
Katherine Neville, die Vizepräsidentin der Bank of America ist (!), war zuvor Computerspezialistin und arbeitete auf drei Kontinenten, wie man in dreieinviertel Zeilen Vorspann erfährt. Das zu wissen, ist für das Buch nicht ganz unwichtig.
Katherine Velis, eine der beiden Hauptheldinnen des Romans, ist Computerspezialistin und im Auftrag einer Wirtschaftsprüferorganisation wird sie 1973 nach Algerien geschickt, wo die OPEC die erste Ölkrise vorbereitet - was noch keiner weiß.
Mireille ist eine junge Frau zur Zeit der Pariser Kommune und die andere Hauptheldin. Ursprünglich Novizin im Kloster zu Montglane, wird sie rasch in turbulente und gefährliche Ereignisse verstrickt, die ihre Schatten bis nach 1973 werfen.
Da ich dieses Buch unbedingt empfehlen will, muß ich mich bemühen, nicht zuviel vom Inhalt preiszugeben. Das dürfte auch schwerfallen, denn der Roman ist vielschichtig und nicht in einem Satz nacherzählt. Die Handlung steigert sich in ihrer Rasanz immer mehr, und ständig warten überraschende Wendungen auf den Leser. Kurz und gut, die Autorin interpretiert praktisch die Weltgeschichte neu, insbesondere die seit dem 18. Jahrhundert. Man begegnet all den Großen und Mächtigen, den Namen aus dem Geschichtsbuch - oder aus den Tagesnachrichten der 70er Jahre. Robespierre, Marat, Danton, Napoleon, Katharina die Große usw. bis hin zu Oberst Ghaddafi. Die Beweggründe ihres Handelns werden in einer überzeugenden Weise in ein anderes Licht gerückt.
Das im Kloster von Montglane versteckte Schachspiel Karl des Großen ist der Schlüssel zu unerhörter Macht. Worin diese eigentlich besteht, verrät Neville erst ganz am Schluß des Buches. Jedenfalls ist die Macht dunkel und gefährlich, so daß das Spiel fast tausend Jahre im Verborgenen ruhte, obwohl anscheinend eine Reihe von Leuten immer wieder danach suchte. Erst in der französischen Revolution wird es ernsthaft bedroht, so daß die Äbtissin beschließt, Brett, Figuren und ein dunkelblaues Einwickeltuch auf ihre Nonnen zu verteilen und diese über ganz Europa. Die Handlungsebene im 18. Jahrhundert, welche sich mit der heutigen abwechselt, dreht sich um die Verfolgung Mireilles, die ihrerseits versucht, das Schachspiel wieder komplett zu bekommen, um sein Rätsel zu lösen, und die andererseits von den skrupellosen Großen Männern (und Frauen) der Geschichte gejagt wird, die das Geheimnis ebenfalls haben wollen. Außerdem ist da noch die französische Revolution und die sogenannte "Schreckensherrschaft". Katherine Neville schildert sehr ausführlich die Greuel jener Zeit, was mich ziemlich nachdenklich machte. Aus DDR-Geschichtsbüchern erinnere ich mich an eine andere Darstellung der Ereignisse. Da war die französische Revolution fast so etwas wie ein Vorläufer der Oktoberrevolution. Von Massenhinrichtungen Unschuldiger schrieb man bestimmt nicht so ausführlich, daß es mir im Gedächtnis haften geblieben wäre.
Auch in der Gegenwart will man das Schachspiel komplettieren, um die in ihm verborgene "Formel" zu bekommen. Katherine Velis ahnt zunächst nichts von der Bedeutung der Figuren, die sie in Algier neben ihrer eigentlichen Aufgabe auftreiben soll. Aber sehr schnell häufen sich mysteriöse Geschehnisse bis hin zu Morden in ihrer Umgebung...
Genug davon! Das Buch muß man selbst lesen. Ich jedenfalls habe es in einem Zug getan, denn ich konnte es einfach nicht aus der Hand legen.
Die Autorin nimmt alles auf, was rätselhaft ist; und vieles, was es eigentlich nicht ist, wird durch dieses Buch zu etwas Rätselhaftem. Von den Freimaurern oder Rosenkreuzern über mittelalterliche Alchimie bis hin zu den Pyramiden und Felsmalereien in der Wüste oder Esoterik und Zahlenmystik fließt alles in das Buch ein und wird in einem großen, neuen Zusammenhang dargestellt. Immer wieder kommt etwas dazu, praktisch im Vorbeigehen der Helden wird ein Detail hinzugefügt, ohne daß die Autorin sich in langen Erklärungen verheddert. Man muß schon ein wenig in der Materie Bescheid wissen, um alles zu erkennen, was sie in ihrem Buch versteckt hat.
Das Erstaunlichste war aber für mich, wie das Problem Schach die Handlung bestimmt. Immer stärker wird klar, je weiter man liest, daß die Protagonisten in ihren Aktionen einem Schachspiel folgen, das sie gleichzeitig selbst spielen. Sie sind also Figuren und Spieler. Und das wissen sie sogar! Sie identifizieren sich selbst mit bestimmten Figuren, deren Ziel es ist, das Montglane-Spiel vollständig in ihre Hände zu bekommen, was auf dem imaginären Schachbrett den Sieg einer Partei bedeuten würde. Somit widerspiegelt auch der Aufbau der Handlung mit ihren überraschenden Wendungen das Spiel mit seinen Zügen.
Der Schluß des Buches hätte aus einem James-Bond-Film stammen können. Verfolgungsjagden durch die Wüste, Schießereien und Flucht mit einer kleinen Jacht quer über den Ozean, Fallen und Gefangennahmen - die ganze Palette der Action. Die Autorin läßt die Handlung bis zum Ende des Romanes stetig "schneller" werden und verarbeitet auch hierbei alles, was das Genre zu bieten hat.
Welches Genre eigentlich? Science Fiction wohl kaum. Fantasy? Auch nicht so richtig. Auf jeden Fall Phantastik. Ein Buch, das man unbedingt lesen sollte. Und um so mehr, wenn man im Gegensatz zu mir Ahnung von Schach hat.

["The Eight", Katherine Neville 1988, übersetzt von Manfred Ohl und Hans Sartorius 1990 (1993), 558 Seiten, DM 16,90] 

SX 45

 

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