Kim Stanley Robinson: Red Mars

Begegnung mit einem Giganten
Kim Stanley Robinson: Red Mars
(Bantam Books 1993, 572 Seiten, $ 5.99)


"Red Mars" (Roter Mars) ist der erste Teil einer Trilogie, die fortgesetzt wird mit "Green Mars" und "Blue Mars". Sie beschreibt die Kolonisierung des Nachbarplaneten der Erde in der nächsten Zukunft. Soweit ist das ja nichts Neues; von Clarke über Asimov bis Ben Bova haben sich fast unzählige Autoren an diesem Abenteuer versucht, das scheinbar so unwahrscheinlich nicht ist. Aber Robinsons Werk hat alle Chancen, sämtliche Vorgänger auszustechen, das kann ich nach der Lektüre des ersten Bandes bereits sagen.
Dieses Buch ist ein grandioses Epos, es ist knallharte Science Fiction, wie man sie heute nur noch selten findet. Es ist realistisch bis zur Schmerzgrenze, denn es ist auch - jawohl - es ist erschütternd. Ich weiß nicht, ob es irgendein Werk der Mainstream-Literatur der 90er Jahre gibt, das so ausgesprochen brutal die Wahrheit über die Menschen vor dem Leser ausbreitet, in einer solch ungeschminkten Weise die Sicht auf die Realität schärft, indem es eine phantastische Situation erschafft, durch die alles wie durch ein Vergrößerungsglas gesehen werden kann. Wenn nicht die deutsche "Literatur" so närrisch wäre, würde auch sie sicher, wie der Rest der Welt, die Größe dieses Buches anerkennen können, ob es nun SF ist oder nicht.
Mars wird besiedelt. Nach der ersten Landung eines Menschen, John Boone, auf dem Roten Planeten werden bald einhundert Männer und Frauen nach einem rigerosen Auswahlprogramm hingeschickt. Sie errichten unter schwierigen Bedingungen die erste Siedlung, unterstützt von unbemannten Nachschublieferungen. Die Erde läßt sich die Sache etwas kosten, eine geradezu unglaubliche Anstrengung wird unternommen, um auf dem Mars Fuß zu fassen. Erst viel später im Buch wird langsam klar, warum das so ist. Die Erde ist ökologisch genauso am Ende wie die Regierungen der westlichen Welt es politisch sind. Die Überbevölkerung in der dritten Welt steigt und steigt. Das Marsprogramm ist ein letztes, verzweifeltes Mittel, die Weltwirtschaft mit dieser ungeheuren Anstrengung noch einmal anzukurbeln, in der Hoffnung, den Mars ausbeuten zu können. Und nur das ist es, was dann noch eine Rolle spielt.
Die ersten Hundert, wie man sie später nennt, haben auch ihre Probleme, aber diese Uneinigkeiten treten bald vor ihrer großen Aufgabe zurück. Hauptsächlich sind die Meinungen darüber geteilt, was man mit dem Mars machen darf und soll. So lassen, wie er ist, oder terraformen? Trotz des Streites werden die großen Projekte gleich dutzendweise angegangen. Es ist Pionierzeit!
Und dann kommen plötzlich weitere Siedler, Wissenschaftler und Konstrukteure. Und mehr und noch mehr. Und ganz unvermittelt schwenkt das Buch um von der Story der grandiosen Tat der Eroberung des Mars zu etwas zunehmend Häßlicherem. Anhand von verschiedenen Einzelschicksalen wichtiger Personen aus den Reihen der ersten Hundert kann der Leser verfolgen, wie lawinenartig der Mars mit Menschen überschwemmt wird, die nichts anderes tun, als ihn zu zerstören, auszubeuten, auszurauben. Einige kämpfen auf ihre Weise dagegen an, doch sie stehen auf verlorenem Posten. Denn auf der anderen Seite stehen die transnationalen Konzerne der Erde, die dort längst schon die wahre Macht in ihren Händen halten.
Robinson rechnet gnadenlos mit der Menschheit ab, mit ihrem gesellschaftlichen System, mit der rücksichtslosen Gier, die uns auch ohne den Mars schon heute in den Abgrund treibt. Wenn es darum geht, Geld zu verdienen, dann ist nicht nur ein Menschenleben nichts wert, dann ist auch alles Gerede von Umwelt und Fortschritt nur hohles Gerede. Statt den Mars kontrolliert und planvoll zu verändern, dem Leben des Menschen auf ihm anzupassen, geht alles in einer hektischen, chaotischen Flut unter. Der Roman wird zu einer beängstigenden Prognose unserer nahen Zukunft, nicht zuletzt, als dann der Große Krieg auf der Erde entbrennt, zum Teil wohl auch um den Mars.
Es ist beklemmend, das zu lesen, und nicht immer leicht. Und es geht immer weiter bis zur furchtbaren Konsequenz. Natürlich kommt es zur Revolte der Marsbewohner, allerdings läuft diese nicht so trivial happy-ending ab wie bei anderen Autoren. Die Erde mit ihrer UNO und allen Druckmitteln, die sie nur braucht, triumphiert. Rücksichtslos gehen die von den Konzernen kontrollierten UN-Truppen über Leichen. Ganze Marsstädte werden reihenweise aus dem Orbit vernichtet. Doch auch die Rebellen halten sich nicht zurück. Sie vernichten den Weltraumlift, der zum Rohstoffabtransport gebaut wurde. Die Schilderung des Absturzes dieses gigantischen Konstruktes ist eines der Meisterstücke des Buches, so schrecklich sie auch ist. Und als die UN-Leute immer noch feige aus dem Orbit meucheln, fernzündet eine Frau der ersten Hundert in ihrem Zorn die Bremstriebwerke des Marsmonds Phobos - so daß er auf dem Mars herabstürzt! Der Kampf tritt in wahrhaft kosmische Dimensionen ein.
Der politische oder gesellschaftliche oder soziale Aspekt des Romans - wie man es auch nennen will - macht das Buch zu einem sehr ernsten, gewichtigen, tragischen Werk. Nichts an ihm ist irgendwie unernst oder gar lustig. Dank einer Rückblendetechnik weiß der Leser z.B. von einem bevorstehenden Mord an einer der Hauptfiguren, der alles bis ins letzte Drittel wie ein Vorbote der unvermeidlichen Katastrophe überschattet.
Aber es gibt auch andere Aspekte. So die äußerst plastischen Naturbeschreibungen vom Mars. Man könnte fast meinen, der Autor habe das alles mit eigenen Augen gesehen. Die enormen Maßstäbe, die man sich eigentlich gar nicht vorstellen kann, werden beinahe faßbar: Olympus Mons, der höchste Berg des Sonnensystems mit 25 km Höhe, oder Vallis Marineris, ein Canyon, dessen Wände so weit voneinander entfernt sind, daß sie hinter dem Horizont verschwinden.
Robinson kommt auch ganz ohne einheimisches Marsleben aus, nicht mal eine müde Alge oder Bakterie erlaubt er sich, und schon längst keine Ruinen von untergegangenen Zivilisationen. Das Buch ist so schon phantastisch genug, und auf diese Weise lenkt nichts von dem beklemmenden Realismus ab, mit dem der Autor unsere widerliche menschliche Gesellschaft porträtiert.
Der über fünfhundert Seiten starke Roman ist nicht leicht zu lesen, tatsächlich trifft der Begriff des Epos hier sehr genau zu. Aber vom Beginn des Fluges zum Mars bis hin zum Kataklysmus, der den ersten Teil beendet, bleibt das Buch faszinierend, voller lebendiger Charaktere, deren Eigenheiten und Schwächen sie einem Leser genauso nahe bringen wie ihre Stärken und Träume. Es ist geradezu unheimlich vielschichtig - man muß es wohl mehrmals lesen, um jede Botschaft, alle seine Aspekte zu erfassen. Der Roman betrachtet wirklich die Menschheit insgesamt durch die Brechung der Marsbesiedlung. Ethnische Konflikte werden ebenso gekonnt aufgegriffen wie religiöse Traditionen. Ein großer Raum wird u.a. den Arabern eingeräumt, die ihre Kultur auf den Mars bringen. Aber obwohl es erst so scheint, als seien die Araber die Bösewichte, wie es naturgemäß in der amerikanischen Literatur von heute der Fall ist, so bleibt es nicht bei diesem Eindruck. Im Gegenteil, Robinson scheint geradezu für Verständnis und Verständigung mit ihnen zu werben.
Dieses Buch verdient die Bezeichnung großartig. Wenn die beiden folgenden Bände genauso werden, dann ist dies eine Trilogie, die einen Meilenstein in der Science Fiction und nicht nur dort markieren wird. 

SX 56

 

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