Melissa Scott: Die Freundlichen
Wer
sind die Freundlichen?
Melissa Scott: Die Freundlichen
(Heyne 06/4946)
Rezension von Wilko Müller jr.
Da guckt es nun, das Gespenst, ohne seine Augen, ohne Gesicht, aus den
Falten eines weißen Bettlakens, das seinen Raumanzug kaum verbirgt.
Vom Cover des Romans meine ich natürlich. Das schöne Bild wird
von einem knalligen Stern überdeckt, in dem zu lesen ist: "In der
Tradition von Frank Herberts 'Wüstenplanet'". Für was hat Herberts
Schöpfung nicht schon alles herhalten müssen! Auf der Rückseite
wird der Vergleich noch auf Cherryhs "Die Sterbenden Sonnen" erweitert.
Man kann nicht in sieben Zeilen ein 500-Seiten-Buch zusammenfassen,
aber man könnte vielleicht etwas schreiben, was zutrifft. Wieder einmal
geht der Klappentext haarscharf am Inhalt vorbei. Es stimmt allerdings,
daß M. Scott "in der Tradition" des Wüstenplaneten geschrieben
hat, was schlicht und einfach heißt, sie hat mächtig gekupfert.
(Ohne ihr das zum Vorwurf machen zu wollen.) Cherryh ist allerdings kein
gelungener Vergleich, denn gerade der Aspekt der Fremen als überragende
Krieger, der diese beiden Bücher verbindet, fehlt in "Die Freundlichen".
Was hat es mit dem Gespenst eigentlich auf sich? Auf der Welt Orestes
nennt man so die Ausgestoßenen, die man für sozial tot erklärt
hat. Die Lebenden geben vor, sie nicht wahrzunehmen, denn wenn sie es tun,
sind sie automatisch selbst tot. Zum Gespenst kann man auf dieser Welt
sehr schnell werden, wie man sieht. Da aber die Toten eigentlich leben
und einen nicht unwichtigen Teil der Gesellschaft darstellen, kommuniziert
man dennoch mit ihnen, über sogenannte Medien, die mit beiden Seiten
sprechen dürfen.
Orestes ist kein Wüstenplanet, sondern eine kalte Welt, aber auch
kein "Winterplanet". Herberts Buch ähnelt das vorliegende Werk insofern,
daß die soziale Struktur der Gesellschaft auf Orestes derjenigen
im Universum von "Dune" ganz entfernt ähnlich ist. Es gibt "Familien",
die den Planeten beherrschen und unter denen hin und wieder eine Fehde
herrscht wie zwischen den Atreides und Harkonnens. Aber ich glaube, da
endet die Ähnlichkeit dann auch schon, denn das, was auf dem Rücktitel
steht, daß der minderjährige Erbe (wie Paul) den Kampf aufnimmt
und sich dabei auf "das Heer der Gespenster" (wie Paul auf die Fremen)
stützt, das täuscht. Es ist weniger der Junge, sondern eher die
Moderatorin, bzw. das Medium Trey Maturin, die schließlich den Kampf
gegen die feindliche Familie führt, nachdem diese im besten Harkonnen-Stil
die Halex überfallen und abgemetzelt hat. Und die Toten greifen zwar
ein, aber nicht ganz so fremenmäßig.
Nun, es geht hier nicht darum, zu beweisen, ob das Buch nun "Dune"
gleicht oder ob nicht. Trotzdem möchte ich ein paar Vergleiche mit
dem nun schon mal zitierten Vorbild anbringen. Ein Unterschied: Orestes
ist eine viel heutigere Welt, auch mit seinen seltsamen sozialen Formen.
War der Hintergrund des "Wüstenplanet" pseudomittelalterlich und recht
mystisch, so erscheint die Welt, in der sich alles abspielt, geradezu modern.
Freilich konnte zu Frank Herberts Zeit noch keiner soviel von der Verwendung
von Computern, Datennetzen und anderen Beispielen moderner Technik wissen
wie heute. So ist dieser Unterschied leicht zu erklären.
Eine Gemeinsamkeit: der steife, förmliche Umgang der Angehörigen
der herrschenden Klasse untereinander. In M. Scotts Buch hängt damit
ein unglaublicher Ehrenkodex zusammen, dessen Verletzung meist den sozialen
Tod mit sich bringt. Wenn wir schon bei Vergleichen sind, mir fiel zu diesem
Verhalten der Personen LeGuins "Winterplanet" ein, wo es eine Sache gibt,
die Shifgrethor heißt und auf einen ähnlich verzwickten
Kodex hinausläuft. Es wird zu diesem System nicht viel erklärt;
nur daß es notwendig gewesen sei, um das Überleben auf dem unwirtlichen
Planeten zu ermöglichen, nachdem man wegen einer Meuterei mit dem
Kolonieraumschiff dort strandete. Die Auswirkungen und die Hinterfragung
dieses überkommenen moralischen Systems - und damit jedes anderen
auch - sind es, was die Autorin in den Vordergrund stellt.
Der verstärkte Kontakt mit der Außenwelt - kein Imperium,
sondern eine scheinbar fortschrittlich/demokratische Ordnung der besiedelten
Welten - bringt auf Orestes Veränderungen mit sich, denen der Moralkodex
nicht mehr gewachsen ist. Unflexibilität reagiert mit Härte,
und Abweichler werden bestraft. Die reiche Familie Halex - reich geworden
durch die Öffnung nach außen - wird unter Vorwänden angegriffen
und fast vernichtet. Nach den folgenden Wirren wie der Flucht auf einen
anderen Himmelskörper des Planetensystems schlagen die Halex mit Hilfe
außerplanetarischer Freunde zurück. Der Angriff ist ein Höhepunkt
des Romans und wird gekonnt geschildert, ohne aber in Gewaltverherrlichung
zu enden. Das Ende ist dann auch die Entschärfung des Ehrenkodex und
die Aufhebung des unsinnigen Tot-Spielens eines Teils der Bevölkerung.
Wie die Gespenster in den Kampf eingreifen und das Blatt wenden, ist folgerichtig,
aber dennoch überraschend. Ich werde es nicht verraten.
Einen Aspekt möchte ich noch erwähnen, da er im Werk auch
eine besondere Stellung einnimmt. M. Scott räumt der Betrachtung von
bestimmten Kunstformen - hauptsächlich einer Art Theater - auf Orestes
einen wichtigen Platz ein. Mehrere Protagonisten sind oder waren Theaterschauspieler;
es geht sogar so weit, daß die Heldin Maturin bewußt über
das dramatische Rollenverhalten ihrer Partner im Zusammenhang mit den Kämpfen
nachsinnt. Vielleicht hat die Autorin einen entsprechenden Hintergrund,
aber in der Schilderung dieser Kultur steckt noch mehr. Nicht ohne tieferen
Grund werden mehrere Aufführungen beschrieben. Kunst als Mittel der
Artikulation der Unterdrückten, als Methode, um Dinge zu sagen, die
man nicht sagen darf, Tabus zu brechen, ohne schuldig zu werden. Das kennt
man hierzulande, und das meint M. Scott.
Der Roman hat Spannung und liest sich gut, wenn auch einige komische
Übersetzungs- und Druckfehler auffielen. So wird einmal jemand "von
der alten Wache" hinzugezogen, was natürlich "alte Garde" heißen
muß, beides im Englischen "guard". Was ich mich aber die ganze Zeit
gefragt habe, wie kommt das Buch zu seinem Titel? Es heißt im Original
auch "The Kindley Ones", was man mit "Die Freundlichen" übersetzte,
obwohl freundlich sich eigentlich "kindly" schreibt. Ein Druckfehler? Aber
wer sind sie denn nun, die Freundlichen? Es gibt im Buch niemanden, den
man so nennt, abgesehen davon, daß die Welt von Orestes alles andere
als freundlich ist.
Für mich gehörte das 1987 geschriebene Buch trotzdem zu den
in diesem Jahr erschienenen guten Titeln, die ich weiterempfehlen kann.
Den Werbetext sollte man lieber nicht lesen, will man nicht falsche Erwartungen
bei sich selbst wecken. Ohne ihn würde sich das Buch vielleicht nicht
so gut verkaufen (also muß er wohl sein), aber der Leser würde
es unvoreingenommen lesen und doch seinen Spaß haben.
["The Kindley Ones", Melissa Scott 1987, übersetzt von Norbert
Stöbe, 1992, 510 Seiten, DM 16.80]
SX 35
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