Orson Scott Card & Kathryn H. Kidd: Lovelock

Orson Scott Card & Kathryn H. Kidd: Lovelock
(Tor Books 1994, $ 5.99, 300 Seiten)


Er ist ein Zeuge, ein wandelndes Aufzeichnungssystem, er ist ein genialer Computerhacker, er ist dabei, auf eine interstellare Reise zu gehen, er ist viel klüger als alle Menschen um ihn herum.
Und er ist ein Affe.
Lovelock, der Ich-Erzähler und Held des ersten Teils der "Mayflower-Trilogie", ist tatsächlich ein genetisch und computertechnisch verstärkter Kapuzineraffe. Allein diese Tatsache macht das Buch zu etwas erstaunlich Neuem. Die zynische, analysierende Sicht des Affen auf seine Mitmenschen wird durch Humor anfangs etwas aufgelockert, zum Ende zu allerdings dominiert die Anklage.
Die Menschen haben es zwar geschafft, verschiedene Tiere zu "liften", wie es bei Brin heißen würde, aber sie akzeptieren sie keineswegs als Ihresgleichen. Im Gegenteil - die verstärkten Tiere sind sogenannte Zeugen, die einen wichtigen Menschen ständig begleiten müssen, um der Nachwelt einmal über ihre gespeicherten Aufzeichnungen Kunde von dessen Leben geben zu können. Daß sie selbst über die Fähigkeit zum rationalen Denken verfügen, daß sie Gefühle haben, interessiert ihre Schöpfer nicht. Wenn sie außer Kontrolle geraten, also etwas tun, wofür man sie nicht vorgesehen hat, werden sie vernichtet. In der Regel begegnet man ihnen aber genau so, wie wir heute auch Tieren begegnen. Bestenfalls indifferent, aber meist herablassend, verständnislos und ablehnend. Den Shuttleflug zum Kolonieschiff, das Lovelocks Mensch, eine weltbekannte Gaialogin, aufnehmen soll, muß der Affe genau wie das Schwein Pink betäubt in einer Kiste verbringen. An menschliche Nahrung darf er nicht heran, er ist eben ein unreines Tier... Doch das sind noch nicht einmal die schlimmsten Erniedrigungen.
Das Buch handelt in der Startvorbereitungsphase, während der die Kolonisten schon an Bord des riesigen Schiffes sind. Von einer Besatzung kann man schlecht sprechen, da es sich bei den Leuten nicht um Raumfahrer handelt, sondern vor allem um betont gewöhnliche Menschen. Sie leben an Bord in Dörfern. Und was daraus resultiert, ist eine geradezu abstoßende Studie der Welt amerikanischer Kleinstädte und Gemeinden. Die Bewohner werden nicht nur nach Nationalitäten zusammengelegt, sondern vor allem nach religiösen Kriterien. Wenn ich etwas hasse, sind es religiöse Eiferer. Card und Kidd übertreiben hier meiner Meinung nach etwas. Oder ist das in den USA wirklich so schlimm? Diese bizarre Bigotterie, dieses Hausfrauendasein zwischen Kirche und Tratsch über alle, die gerade nicht anwesend sind? Die Menschen an Bord der "Arche" sind nicht etwa kompetente Spezialisten auf zehn Fachgebieten, sondern intrigierende, scheinheilige, widerliche Kreaturen - und das nicht nur vom Standpunkt Lovelocks aus. Er kann sich über die religiöse Verbohrtheit der Menschen nur amüsieren, denn er weiß, wer sein Schöpfer ist - bestimmt kein allmächtiges und allwissendes Wesen. Aber es ist schon beklemmend, was die beiden Autoren uns da vorführen. Ob dieses Unternehmen gut gehen wird, bei all dem Konfliktpotential? Das werden die noch nicht erschienenen Teile der Trilogie zeigen.
Bisher sind die Konflikte unter den Menschen allerdings noch nicht ausgebrochen. Der erste Teil beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Sklavenstatus Lovelocks und der anderen Zeugen, aller Tiere, ob nun vernunftbegabt oder nicht, welche vom Menschen unterdrückt und ausgebeutet werden. Sein Weg zur Erkenntnis seiner Situation ist schmerzhaft und gefährlich. Das Wort von der unterdrückten Spezies fällt gleich zu Anfang. Mit diesem Gedankengang greifen die Autoren eine sehr globale und oft vermiedene Frage auf: die nach dem Recht des Menschen, Tiere auszubeuten. Kein Zweifel, das ist das Recht des Stärkeren. Aber wer fragt schon nach den Gefühlen der Tiere? Wir meinen sagen zu können, daß Tiere keine Gedanken haben und keine hochentwickelten Gefühle. Woher nehmen wir diese Gewißheit? Die Figur Lovelocks führt einem die Verzweiflung eines solchen Daseins doppelt und dreifach vor Augen, betont dadurch, daß der Affe nicht nur wie ein Mensch denken kann, sondern auch noch wesentlich rationaler ist als ein solcher. Lovelock tötet schließlich ein Tier, "das ihn liebte und ihm vertraute, um seinen eigenen Zwecken zu dienen", und er erkennt, daß er damit zum Menschen geworden ist. Ein bezeichnendes Kriterium.
Verschärft wird die Problemstellung der Autoren noch durch ein paar eingeworfene Passagen aus dem Tagebuch oder den Gedanken zweier Kinder, die sich unabhängig von Lovelock genauso entmündigt und als Sklaven der Erwachsenen vorkommen wie er. Keiner hat sie gefragt, ob sie an Bord der "Arche" die Erde für immer verlassen wollen. Niemanden interessiert, was sie wollen und denken. Sie sind nur Rohmaterial für die Besiedlung der neuen Welt.
Mit der Konstellation Lovelock - Peter und Diana haben Card und Kidd offenbar ein paar Anleihen bei "Ender's Game" aufgenommen, sogar ein Name ist gleich. Wichtige Dinge über die Gedankenwelt von Kindern, die im Ender-Zyklus angedeutet wurden, werden hier wieder aufgegriffen. Das scheint ja Card ein besonderes Anliegen zu sein, wenn man seine Bücher betrachtet.
Cards Science Fiction ist wieder einmal genial, und man merkt dem Buch nicht an, wo Kathryn H. Kidd das Ihre beigetragen hat. Wenn man Cards Vorwort über diese Zusammenarbeit liest, erfährt man auch, wie es dazu kam und was davon zu halten ist. Jedenfalls gereicht es dem Buch nicht zum Nachteil, daß es zwei Autoren hatte.
Jetzt braucht man nur noch zu warten, bis es auf Deutsch erscheint, was sicher nicht lange dauern wird.


PS: Leider gibt es bisher offenbar noch keine Fortsetzung dieses Buches. Schade.
PPS: Ich glaube, Card sagte mir vor längerer Zeit, dass die Ko-Autorin verstorben sei, sodass es keine Fortsetzung geben wird. Aber ich bin mir nicht ganz sicher.


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