Piers Anthony: Der Modus-Zyklus

Piers Anthony: Der Modus-Zyklus
Virtual Mode / Fractal Mode
(Grafton 1991/92)


Wenn Piers Anthony seine "greatest ever series" beginnt, die größte Serie, die er je geschrieben hat, ahnt man Schlimmes. Noch länger als Xanth? Aber vielleicht ist das auch nur ein zweifelhafter Werbegag des Verlages. Ich weiß zumindest von drei Bänden, die schon vorliegen, die beiden ersten konnte ich in englischer Sprache ergattern.
Nachdem ich von seinem "Inkarnationen"-Zyklus bereits begeistert war, kaufte ich mir nun die beiden ersten Bände des neuen Projektes. Und es hat sich gelohnt! Wie lang die Angelegenheit auch wird, ich bin entschlossen, dabei zu bleiben.
Die Einordnung der Bücher dürfte schon etwas schwierig werden. Man könnte meinen, es handele sich um Fantasy, da es z.B. Magie in bestimmten Erscheinungsformen gibt. Anthony selbst meint, man könne es eine Fantasy-Serie nennen, obwohl das ihre Definition einenge. Im ersten Buch gibt es allerdings weniger Fantasyelemente. Es würde alles vom "Modus" abhängen, erklärt der Autor, dies sei ein Alles-ist-möglich Projekt. Und tatsächlich gibt es im zweiten Band schon mehr Magie, paradoxerweise aber auch mehr Wissenschaft.
Die Welt, das Universum, das der Autor entwirft, ist schon ein seltsames Ding. Der erste Band dient, obgleich eine abgeschlossene Handlung, zur Vorstellung des Konzeptes und der Hauptfiguren. Auf den ersten Blick scheint sich Anthony des Konzeptes der Parallelwelten bedient zu haben. Offensichtlich gibt es in seinem Universum eine unendliche Zahl von Realitäten, die nebeneinander und normalerweise getrennt voneinander existieren. Diese nennt er "Modes", korrekterweise ins Deutsche als Modi zu übersetzen. Die Naturgesetze unterscheiden sich in den einzelnen Modi voneinander, so daß nicht nur in einigen die Welt von Magie beherrscht wird, sondern sogar noch viel seltsamere Erscheinungen möglich sind. Praktisch alles, was nur irgendwie vorstellbar ist, und sei es noch so abstrus, besitzt irgendwo Realität. Man wird durch Welten aggressiver Drachen oder ängstlicher Drachen geführt, durch von telepathischen Bären oder Tigern beherrschte Regionen, mentale Monster tauchen genauso auf wie ein telepathisches Pferd, welches das Denken von Menschen benutzt, um intelligent zu sein.
Die Modi können normalerweise von ihren Bewohnern nicht verlassen werden. In einer Welt, in welcher der Protagonist Darius zu Hause ist, befinden sich allerdings die "Chips", obskure Geräte unklarer Herkunft, die den Transfer auf einen anderen Modus ermöglichen. Mit einem solchen Chip kommt Darius auf die Erde (d.h. es ist eigentlich immer die Erde, er kommt natürlich in unsere Realität), um eine Frau zu suchen, die bestimmte Anforderungen erfüllt, welche auf seiner Welt nicht zu finden sind. Doch auf der Erde funktioniert seine Magie nicht, und er wird das Opfer von kriminellen Jugendlichen.
Die eigentliche Hauptperson ist aber das vierzehnjährige Mädchen Colene. Durch zerrüttete Familienverhältnisse und negative Erfahrungen wie eine Vergewaltigung ist sie suizidal geworden und schneidet öfter mal an ihren Handgelenken herum. Sie findet Darius im Straßengraben und versteckt ihn.
Nachdem sie ihm ihre Sprache ein wenig beigebracht hat, erfährt sie, daß er angeblich aus einer anderen Welt stammt. Sie glaubt ihm natürlich nicht, will ihm aber helfen. In einer spektakulären Aktion erlangt sie ein Schlüsselgerät von den Kriminellen zurück, das er braucht, um nach Hause zu kommen. Dabei spielt ihre Veranlagung eine große Rolle.
Da sie ihm nicht glaubt, verschwindet Darius wieder. Colene erkennt ihren Fehler und die verpaßte Chance, ihr deprimierendes Leben zu verlassen.
Das gleiche passiert aber auch Darius. Er bereut bald seinen übereilten Aufbruch. Da das Hüpfen von einem Modus in den anderen mit ziemlichen Unsicherheiten verbunden ist, kann er nicht so einfach zurück und sie doch noch holen. Deshalb baut man mit Hilfe der Chips den sogenannten Virtuellen Modus auf. Der Begriff beruht auf einem Konzept, das Colene Darius vermittelte, indem sie sich auf Speichererweiterungen in Computern bezog (virtuelle Laufwerke usw.). An dieser Stelle wird der Text für kurze Zeit recht technisch. Der Virtuelle Modus ist wie eine zusätzliche, nicht reale Weltenebene, welche die anderen Modi in einer Art Winkel schneidet und es so ermöglicht, von einem Modus zum nächsten zu laufen. Das können allerdings nur fünf sogenannte Anker-Personen. Die virtuelle Ebene ist an fünf Punkten auf fünf verschiedenen Modi verankert. Darius und Colene sind zwei der Anker-Personen.
Beide machen sich nun auf den Weg, um sich irgendwo wiederzufinden. Aller drei Schritte wechseln sie die Realität, ohne vorher zu sehen, wo sie hingeraten. Überraschungen sind also programmiert. Darius wird z.B. von Drachen gefangen, die ihn zur Zucht neuen Jagdwildes - der Menschen - haben wollen. Mit Hilfe einer anderen Gefangenen gelingt ihm die Flucht...
Die beiden finden sich, nachdem sie jeder einen Begleiter getroffen haben, in der fünften Ankerwelt. Colene bringt das telepathische Pferd Seqiro - auch eine Anker-Person - mit, und Darius die Frau Provos, die sich nur an die Zukunft erinnern kann (was sich als recht nützlich erweist). Ihr Zusammentreffen ist jedoch nicht etwa das Ende der Odyssee - der Ober-Imperator der Welt, in welcher es stattfindet, ist gleichzeitig die Anker-Person und will auch Zugang zum Virtuellen Modus. Doch er beabsichtigt, alle anderen Modi zu unterwerfen und deren Bewohner zu versklaven.
Also müssen sie sich etwas einfallen lassen, um das zu verhindern. Sie schaffen es und lösen diesen Anker am Ende des ersten Buches.
Im zweiten geraten die vier Wanderer dann in ein ganz und gar seltsames Universum. Dieser Modus ist ein Fraktal. Das bedeutet, daß das Universum ein Fraktal ist - und zwar wortwörtlich. Planeten sind nur fraktale Auswüchse des Mandelbrot-Sets, Sterne sind dichte Kreuzungspunkte der Filamente usw.! Anthony hat hier ein erstaunliches Bild geschaffen, das durch seine Beschreibungen auch für jemanden vorstellbar wird, der nicht gerade in der Welt der Chaostheorie oder fraktaler Mathematik zu Hause ist.
In dieser eigenartigen Welt lebt die neue fünfte Anker-Person, Nona, die durch das Ende des ersten Teils entstanden ist. Die Helden müssen bestimmte Aufgaben erfüllen, wozu auch gehört, daß Colene kurz in ihre eigene Heimat zurückkehrt, um sich Informationen über das Mandelbrot-Set zu verschaffen.
Ich möchte nicht mehr zur Handlung erzählen, sondern noch ein paar andere Aspekte der beiden Romane betrachten.
Zunächst sind sie sehr spannend. Das ist eine recht triviale Aussage, aber so ist es nun mal. Ich konnte mich von beiden Büchern fast nicht mehr losreißen und las bis spät in die Nacht hinein.
Aber der Wert dieser Romane erschöpft sich nicht in einer aktionsbetonten Handlung. Der Autor nennt solche Bücher wie diese selbst "Author's Note Series", grob und unzutreffend übersetzt "Nachbemerkungs Serie". Heißen soll das, Anthony hat in die Handlung seine Eindrücke aus "jenem Abschnitt (seines) Lebens, der während des Schreibens dieses Romans stattfand" eingearbeitet, "komplett mit Diskussionen sozialer Gegenstände und unvollendeten Gedanken". Hauptsächlich äußert sich Anthony zu seinem Leben und zum Roman aber in den tatsächlichen Nachworten, die ca. 20 Seiten des Buches ausmachen. Ich stimme mit dem zitierten Leser überein, der sagte, Anthony mache seine Charaktere lebendig, aber die Nachworte würden ihn für den Leser lebendig machen. Es sind keine "das ist Fantasy und das Wissenschaft" - Nachworte, sondern sehr persönliche Botschaften an den Leser.
Konkret bedeutet es für den Modus-Zyklus, daß viele - und oft auch tabuisierte - Probleme unserer Realität in Anthonys Schreiben einflossen. Der hervorragend und überzeugend gestaltete Charakter der Colene entstammt dem Briefwechsel des Autors mit verschiedenen selbstmordgefährdeten Mädchen, die er übrigens schon im Nachwort zum "Inkarnationen"-Zyklus erwähnte. Indem er das Innenleben Colenes und die Ursachen für ihr Verhalten schonungslos offenlegt, trägt er mit seinen Büchern vielleicht (auch) zum besseren Verständnis der Probleme bei, die solche Kinder und Jugendlichen haben - möglicherweise hilft er ihnen auch, denn Colene tut es ja letzten Endes doch nicht, sondern findet einen neuen Lebenssinn.
Das Problembewußtsein Anthonys beschränkt sich in den Romanen des Modus-Zyklus' nicht auf diesen einen Schwerpunkt, aber es würde zu weit führen, das alles hier auseinanderzusetzen. Die Romane sind nicht lustig, man stößt immer wieder unverhofft auf Dinge, die wir allzugut kennen, aber oft nicht wahrhaben wollen, weil wir ihnen hilflos gegenüber stehen. Anthony macht sich nichts aus Konventionen oder Tabus, weder in literarischer Hinsicht noch in gesellschaftlicher. Er hat seinen Lesern etwas zu sagen, und das nicht nur in den Nachworten.
Man kann nur hoffen, daß sich ein deutscher Verlag findet, der den Zyklus bringt - und möglichst vollständig, im Gegensatz zum "Inkarnationen"-Zyklus, dessen Abschluß immer noch aussteht.

[Virtual Mode, 1991, 381 Seiten, £ 4.99]
[Fractal Mode, 1992, 414 Seiten, £ 4.99]
[Chaos Mode ? (liegt noch nicht vor)]

SX 48


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