Robert L. Forward: Das Drachenei

Der 200-Millisekunden-Tag
Robert L. Forward: Das Drachenei
(Bastei Lübbe 24130/880)


R.L. Forward war mir bisher unbekannt, was sicher einigen so gehen dürfte, denn er hat erst drei SF-Romane veröffentlicht. Man nennt ihn in einem Atemzug mit J.P. Hogan als einen führenden Vertreter der hard core SF. Er ist Physiker und (war?) in der Raumfahrtforschung tätig. Neben über 100 wissenschaftlichen Arbeiten und einer Anzahl von Patenten trat er also auch mit belletristischen Werken an die Öffentlichkeit. Der Roman "Dragon's Egg" hat noch eine Fortsetzung "Starquake" ("Sternbeben" BL 24100). Außerdem erschien deutsch "Der Flug der Libelle" (BL 24078). Bei der Angabe im Heyne-SF-Lexikon über ein erstes Buch "Dragon Star" scheint es sich um einen Fehler zu handeln, hier dürfte "Drachenei" gemeint sein.
Hard core SF und dann Drachen? Das irritiert den schubfachdenkenden Leser natürlich und ist in meinen Augen nicht gerade eine verkaufspsychologische Glanzleistung. Der SF-Fan sieht den Titel und stellt das Buch wieder weg, weil er mit Fantasy meist nichts im Sinn hat. Der Fantasy-Fan schaut es sich genauer an oder liest es gar, und ist enttäuscht, weil er mit hard core nichts im Sinn hat. Da hilft es auch nicht viel, daß auf dem Cover der Untertitel "Leben auf einem Neutronenstern" zu lesen ist. Nun ja, jedenfalls ist der Titel schön poetisch.
Die sogenannte hard core SF zeichnet sich ja durch ihre Schwerpunktlegung auf die Wissenschaftlichkeit aus. Zwei Extrema sind dabei denkbar: eine (populär-)wissenschaftliche Abhandlung mit Handlung und eine Handlung mit wissenschaftlich fundiertem Hintergrund, den der Leser nicht mehr vordergründig bemerkt. Forward zwingt den Leser nicht zur Rezeption seitenlanger wissenschaftlicher oder pseudowissenschaftlicher Erörterungen seiner Handlungsträger oder gar seiner selbst. "Drachenei" gehört eher zur zweiten Gruppe - die Wissenschaftlichkeit spiegelt sich in der Funktion der beschriebenen Welt wieder.
Mit großer Überzeugungskraft zeigt er, wie auf der "erkalteten" Kruste eines Neutronensterns neutronisches Leben entsteht und sich zur Intelligenz entwickelt. Es sind zwar nur nach unseren Maßstäben winzige, amöbenhafte Wesen, aber sie verhalten sich durchaus für uns verständlich, wenn man auch nicht unbedingt sagen kann, daß sie sich menschlich verhalten.
Das Leben auf dem superdichten, massiven Stern läuft mit ungeheurer Geschwindigkeit ab. Eine Umdrehung des Sterns dauert nur 200 ms. Die Lebensprozesse der auf nukleonischer Basis entstandenen Wesen sind aber so beschleunigt, daß dies für sie durchaus normal ist. Probleme haben sie schon mehr mit ihrer Fortbewegung. Die ist in leichte und schwere Richtungen unterteilt, je nach Anordnung des gigantischen Magnetfeldes des Sterns.
Wer die Dinge im Text noch nicht begreift, kann immerhin in einem langen, bebilderten Anhang nachschauen. Jedoch ist das nicht unbedingt nötig. Die Welt des Eis ist so komplex, daß sie hier nicht umfassend geschildert werden kann. Wenden wir uns der Handlung zu.
Das Geschehen auf dem Neutronenstern wird eingebettet und relativiert durch eine irdisch/menschliche Handlungsebene, die parallel läuft. Diese beginnt 500.000 Jahre vor unserer Zeit mit der Entstehung des Neutronensterns, der sich auf das Sonnensystem zubewegt, und kulminiert im Jahre 2050 mit dem Raumflug zu diesem und der Entdeckung der dortigen Zivilisation. Während sich also die Menschheit vom baumbewohnenden Vorfahren Buu zu den Raumfahrern des Schiffes St.George entwickelt, findet auf dem Ei (von seinen Bewohnern auch so genannt) die gesamte biologische und geistige Evolution statt. Die Menschen treffen ein, da haben die Cheela eine Art mittelalterliche Kulturstufe erreicht. Es kommt zur beiderseitigen Entdeckung und der Informationsübermittlung. Als die Menschen wieder abfliegen müssen, sind auf dem Ei sozusagen Jahrtausende vergangen und die Cheela haben ihre Besucher in jeder Hinsicht überflügelt, was allerdings nicht ohne den Ansporn durch den (jahrtausendelangen!) Besuch möglich gewesen wäre.
Selbst der fast vierzigseitige Technische Anhang des Buches ist lesenswert. Forward erklärt nicht nur und faßt nicht nur zusammen, selbst dieser Anhang ist z.T. Fiktion. Er ist der "Science Encyclopedia del Reys" entnommen - zweifellos eine ironische Anspielung auf Lester del Rey. Diese Enzyklopädie ist zudem bei Random House, New York, Erde, erschienen, derzeit ein SF-Verlag... Die Astronomin Amalita S. Drake ist im Roman die Urenkelin von F.D. Drake, einem heute lebenden, bekannten Astonomen und SETI-Forscher. Im Anhang geht Forward sogar ausdrücklich auf Hal Clements SF-Stories ein, die mit seinem Buch wohl noch am ehesten verglichen werden können (z.B. "Mission Schwerkraft"). Es gibt noch mehrere dieser ziemlich erheiternden Einzelheiten, die nach der Lektüre des spannenden Buches geradezu entspannend wirken.
Für Fans der hard core und spannender Unterhaltung zugleich eine unbedingte Empfehlung. Besten Dank an Detlef Bornemann, der mir das Buch borgte! 

SX 19

 

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