Robert Silverberg: Kingdoms of the Wall
Robert
Silverberg: Kingdoms of the Wall
(Grafton 1992, 348 Seiten £ 4.99)
Zwei Jahre, nachdem ich zum ersten Mal einen Auszug aus diesem Buch
las, gelang mir nun endlich, es zu bekommen. Und der Auszug hatte mich
nicht getäuscht! Das ist Silverberg auf der Höhe seines Schaffens,
das ist ein Werk, welches man nicht so schnell wieder vergißt! Völlig
zu Recht wird Isaac Asimovs Ausspruch zitiert: "Wo Silverberg heute hingeht,
wird ihm die Science Fiction morgen folgen."
Der Roman spielt auf einer fremden Welt, und die Protagonisten sind
fremdartige, wenn auch menschenähnliche Wesen. Die hervorstechendste
Eigenschaft dieser Humanoiden ist, daß sie Gestaltwandler sind, jedenfalls
in einem begrenzten Maße. Am Beispiel des Haupthelden, Poilar Crookleg
(Krummbein), wird gleich auch die Grenze ihrer Fähigkeit klargemacht:
er kann sein durch einen Geburtsfehler deformiertes Bein nicht durch Gestaltwandel
richten.
Die Menschen - nennen wir sie der Einfachheit halber so - leben in
einem Dorf am Fuße eines großen Berges. Doch beide Begriffe
sind eigentlich unzutreffend. Das "Dorf" ist offenbar so groß, daß
es pro Jahrgang mindestens 1800 Gleichaltrige gibt - was das für eine
Bevölkerungszahl bedeutet, kann man sich leicht ausrechnen. Dennoch
nennt Silverberg es aus irgendeinem Grund village, wahrscheinlich,
um auf bestimmte dörfliche Formen des Zusammenlebens hinzuweisen.
Und der "Berg". das ist der Wall aus dem Titel, den man mit "Reiche des
Walles" übersetzen müßte. Dieser Berg ist so ungeheuerlich,
so unvorstellbar groß, daß er wohl den halben Planeten dominiert.
Man erkennt hier ein Motiv aus einem früheren guten Roman Silverbergs
wieder, nämlich "Lord Valentine's Castle" - auf dem Planeten Majipoor
gab es einen ähnlichen, praktisch in die Stratosphäre reichenden
Berg. (Übrigens auch Gestaltwandler.) Doch Kosa Saag unterscheidet
sich vom Burgberg Majipoors ganz beträchtlich. Er ist in Wahrheit
ein ganzes Gebirgsmassiv, das sich über einen großen Teil des
Planeten erstrecken muß. Wie eine Person des Romans bemerkt, ist
es eine Welt, ein Universum in sich selbst. Einmal abgesehen von der planetologischen
Unwahrscheinlichkeit eines solchen Objektes (aber wer könnte sagen,
daß es wirklich unmöglich ist?) ist der Gedanke an sich doch
schon aufregend.
Der Sage nach kletterte vor Jahrtausenden ein vom Dorf verstoßener
Mann, der Erste Kletterer, bis auf die Spitze des Berges, wo er den Göttern
begegnete, die ihm so nützliche Dinge wie Zivilisation beibrachten.
Seitdem ist es Brauch, daß die Dörfer am Fuße des Walls
jedes Jahr vierzig ihrer Leute eines Jahrganges hinaufschicken, um ihm
nachzueifern.
Leider kommt kaum einer zurück, und wenn doch, dann verändert
oder einfach als Wahnsinniger.
Poilar, der Held des Buches, zweifelt jedoch nicht daran, daß
es ihm bestimmt ist, bis zur Spitze und wieder zurück zu gelangen.
Seit seinem 12. Lebensjahr bereitet er sich darauf vor. Schließlich
ist es soweit: zusammen mit neununddreißig anderen geht er auf die
Wanderung durch die Reiche (oder Königreiche) des Walles. Die Wanderung
ist äußerst gefährlich, wie man sich denken kann, und fordert
eine Reihe von Opfern. Doch es scheinen weniger physische Gefahren zu sein,
die einen dabei bedrohen. Es sind eher reichlich mysteriöse Einflüsse,
die mit der Fähigkeit zum Gestaltwandel zusammenhängen, welche
außer Kontrolle zu geraten scheint, die die Gruppe dezimieren. Außerdem
sind es wohl auch Veranlagungen einzelner, die sie dazu bringen, die anderen
Wanderer in einem der Reiche zu verlassen. Denn wie sich zeigt, ist der
Berg ganz und gar nicht unbewohnt. Kein Wunder, wenn jährlich Leute
auf Pilgerfahrt gehen und nicht zurückkehren. Überall trifft
man in den höheren Regionen auf mehr oder weniger stark transformierte
Pilgerer, die dort leben.
Der Aufstieg dauert eine unbestimmte, aber sicher sehr lange Zeit.
Es wird von anderen berichtet, die Jahre damit zubrachten. Als die Pilgerer
zum Beispiel einen sehr schwierigen Abschnitt zurückgelegt haben und
auf einem Plateau stehen, müssen sie erkennen, daß der rötliche
Himmel am Horizont nichts anderes ist, als der eigentliche Berg - bis dahin
bestiegen sie nur eine seiner Vorstufen.
Innerhalb der Gruppe, die Poilar anführt, kommt es zu vielfältigen
Beziehungen, durch die sich etwa zehn Hauptfiguren herauskristallisieren.
Mehr oder weniger sind es Figuren einer traditionellen Queste: der Anführer,
der Weise, der Starke, die Heilerin oder Hexe. Besonders bei letzterer
war ich mir bis zum Ende nicht ganz sicher, wie ich ihre Fähigkeiten
verstehen sollte. Silverberg schreibt oft von Magie und Bannzaubern, vom
Heilen und ähnlichen Dingen, aber dennoch gehört der Roman nicht
ins Reich der Fantasy. Die fremdartigen Wesen haben offensichtlich mehr
ungewöhnliche Fähigkeiten, als nur den Gestaltwandel. Ein bestimmtes
Element, das ich verschweigen möchte, kennzeichnet das Buch eindeutig
als Science Fiction.
Poilar und einige seiner Kameraden schaffen den Aufstieg bis zur Spitze
des Walles tatsächlich, aber ich möchte hier nicht die Handlung
im einzelnen schildern. Sie gewinnen die Erkenntnis, die sie mit ihrer
Pilgerfahrt suchten und kehren innerlich verändert zurück.
Es ist die Welt des Walles an sich, die fasziniert. Die gefahrvolle
Wanderung gleicht manchmal einem Traum - oder Alptraum - in dem nichts
erklärt wird, sondern man den Wundern einfach nur begegnet. Am Ende
des Buches wird zwar eine Art Erklärung angeboten, aber die ganze
vorherige Handlung über muß sich der Leser von den Helden durch
eine bizarre Landschaft voller Rätsel führen lassen. Manches
mutet fast märchenhaft an, zum Beispiel eine Art Jungbrunnen, den
man in einem Reich nutzt, um ewig zu leben. Nichts wird so banal begründet
wie mit Radioaktivität oder Mutation, wenn sich der Gedanke in Verbindung
mit dem Gestaltwandel auch irgendwie aufdrängt. Ich konnte mir die
Landschaften des Riesenberges sehr gut vorstellen; Silverberg vermochte
es, sie sehr eindrucksvoll zu beschreiben. Es ist sicher auch kein Zufall,
daß er sein Buch Ursula K. Le Guin gewidmet hat, in deren "Winterplanet"
eine ähnlich gefährliche Wanderung geschildert wird.
Gerade die fortwährend bestehenden Rätsel tragen viel zur
Spannung des Buches bei. Zum Teil resultierte diese für mich sogar
aus der Frage, als was sich der Roman schließlich herausstellen würde:
Fantasy, wenn die Götter und die Magie real wären, oder Science
Fiction, wenn Silverberg eine realistischere Erklärung anböte.
Er tat letzteres, und die Stelle, an der es dem Leser augenblicklich
klar wird, kommt wie ein plötzlicher Schock.
Die Figuren sind überzeugend und individuell gestaltet, und nicht
so geradlinig schematisch, wie man das bei den traditionellen Queste-Helden
befürchten könnte. Der Ich-Erzähler Poilar ist kein Überheld,
sondern macht auch Fehler, die einzusehen ihm nicht leicht fällt.
Auch die Fremdartigkeit der handelnden Personen ist Silverberg sehr gut
gelungen. Ihre Biologie ist doch von der menschlichen sehr verschieden,
ob das nun den Gestaltwandel betrifft, mit dessen Hilfe sie sich auch den
sich verändernden Umweltbedingungen auf dem Berg anpassen können,
oder ihr Sexualverhalten, das ebenfalls eng mit dem Verändern des
Körpers verbunden ist (im Normalzustand sind sie Neutren).
Man findet in dem Buch noch mehr interessante Dinge. Die Sozialstruktur
der dörflichen Gesellschaft, die völlig auf den Berg und die
Organisation der jährlichen Pilgerfahrten ausgerichtet zu sein scheint,
die religiöse Fixierung der Helden auf ihre Götter, denen sie
begegnen wollen, und vieles mehr.
Bei einem Autor wie Silverberg kann man annehmen, daß sein Roman
bald auch auf Deutsch vorliegen wird. Es lohnt sich, nach ihm Ausschau
zu halten!
SX 55
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