Robert Silverberg: Über den Wassern
Robert
Silverberg: Über den Wassern
(Heyne 06/4973)
Man kann dieses Mal die Wahl des deutschen Titels anstelle von "Das
Gesicht der Wasser" fast verstehen. Mir zumindest blieb unklar, warum das
betreffende Objekt "Gesicht über den Wassern" und ähnlich bezeichnet
wird, seine Natur wird keineswegs in dem Buch erklärt. Aber der Reihe
nach - das "Gesicht" taucht erst am Ende des Romans auf.
Das Buch handelt auf der Wasserwelt Hydros, deren endloser Ozean von
zahlreichen intelligenten, aber völlig unverständlichen Lebensformen
bewohnt wird. Auf den künstlichen Inseln der Gillies, Kiemlinge oder
Sassen - wie man die scheinbar dominante Spezies nennt, haben sich seit
ein paar Jahrhunderten Menschen angesiedelt. Sie werden gerade mal so von
den Eingeborenen geduldet und führen ein erbärmliches Leben.
Sie sind Nachkommen von Kriminellen, die man hier einfach ausgesetzt hatte.
Die bewohnte Galaxis kümmert sich nicht um Hydros. Die Menschen haben
keinerlei Möglichkeit, von hier wegzukommen oder irgendeine Art Hilfe
zu erhalten. Nun, das ist eine Situation, die Silverberg vorgibt, die man
ihm aber nicht unbedingt abnehmen muß, ohne sie in Frage zu stellen.
Als einige der von den Menschen beim Fischen als Helfer angeheuerten
intelligenten "Taucher" bei einem Arbeitsunfall ums Leben kommen, wird
die ca. 75 Personen starke Menschengruppe der Insel Sorve von den Gillies
"des Landes verwiesen". Sie brechen in einigen kleinen Segelschiffen auf,
um sich eine neue Heimat zu suchen. Der Erzähler der Geschichte ist
der Arzt Lawler, einer der geachtetsten Einwohner, jedoch auch mit gewissen
Schwächen. Zum Beispiel ist er drogensüchtig.
Nun beginnt eine echte Odyssee quer über das Weltmeer - nie war
ein Begriff zutreffender. Der Anführer der kleinen Flotte, welcher
übrigens auch für die tödlichen Unfälle verantwortlich
war, führt diese jedoch nicht zu der geplanten Insel, wo man sie ohnehin
nicht aufgenommen hätte, wie man später erfährt, sondern
in Richtung eines reichlich mystischen Ortes, von dem man annimmt, daß
er ein Festland darstellen könnte. Dieser Ort heißt das "Gesicht
über den Wassern" oder auch das Feste über den Wassern. Die Gillies
meiden ihn anscheinend in abergläubischer Furcht. Durch das Buch ziehen
sich Spekulationen, was das "Gesicht" darstellen könnte und warum
es so gefürchtet wird.
Zu der oben genannten fraglichen Situation kommt nun noch, daß
die Menschen auf Hydros offensichtlich nicht einmal wissen, ob es nun irgendwo
ein Festland gibt oder nicht. Die hier geborenen Leute der dritten Generation
mögen ja ignorant sein, aber da ständig weitere Menschen von
benachbarten Welten herkommen, ist schon zweifelhaft, daß keiner
Informationen über die Oberflächenbeschaffenheit von Hydros besitzt.
Der Roman schildert hauptsächlich die Reise über das Meer,
eine bunte Aneinanderreihung von Seltsamkeiten und Gefahren. Am Ende überleben
nur noch ein Dutzend von der ursprünglichen Bevölkerung Sorves.
Die Handlung erinnerte mich ein wenig an "The Kingdoms of the Wall" (s.
SX 55), wo eine ähnliche monumentale Reise geschildert wird. Vielleicht
liegt es daran, daß ich Seefahrten nicht viel abgewinnen kann, aber
das Buch über die Berge hat mir wesentlich besser gefallen. Es war
schlüssiger und spannender. Auch hier kommen wie in "Kingdoms..."
die schwelenden Konflikte zwischen den Figuren kaum zum Ausbruch, Silverberg
verzichtet zugunsten einer phantastischen Reisebeschreibung weitgehend
auf die klischeehaften Dreierbeziehungen und ähnlichen Standardkram.
Im vorliegenden Werk philosophiert der Autor allerdings stellenweise
über Gott und die Welt, was durchaus wörtlich zu nehmen ist.
Ein katholischer Geistlicher gehört zu der Gruppe, und der atheistische
Lawler hat auch so seine Probleme mit der Weltanschauung. Solche Passagen
gehen natürlich auf Kosten der Handlungsdynamik.
Die Erde ist übrigens durch einen Nova-Ausbruch der Sonne vor
ein paar Jahrhunderten vernichtet worden und die Menschheit lebt in der
Diaspora. Lawlers eigentlich unbegründete Trauer um die Erde (er ist
ein eingeborener Hydraner) zieht sich als melancholischer Faden durch das
ganze Buch.
Was die Überlebenden am Ende entdecken und dann tun, ist recht
überraschend. Vorher gibt es kaum Hinweise darauf, und man muß
es also einfach hinnehmen. Die letzten Menschen der Schiffsbesatzung befinden
sich in einer auswegslosen Lage, und der Neuanfang, der ihnen noch bleibt,
wird sicher manchem Leser als fragwürdig erscheinen. Der Schluß
läßt alles offen, was man eine Wertung nennen könnte, es
wird nichts darüber gesagt, was man nun davon halten soll.
Das überläßt Silverberg dem Leser.
Ein kleiner Witz am Schluß: Unter den paar Gegenständen
von der Erde, die Lawler als Familienerbe mit sich führt, befindet
sich auch ein Stein von der Berliner Mauer. "'Das kommt von irgendso einer
Mauer, die sie damals hatten, einer Mauer zwischen Ländern, weil es
da Krieg gab. . Irgendwann kam dann ein Frieden, und sie rissen die Mauer
ein, und alle feierten heftig, und Stücke von der Mauer wurden aufbewahrt,
damit keiner jemals vergessen sollte, daß es die Mauer einmal gab.'"
(S. 175) Wie schön zu wissen, daß ein Stück der Mauer der
letzte Überrest der Erde sein wird.
[The Face of the Waters, © Agberg, Ltd. 1991, übersetzt von
Roland Fleissner 1995, 525 Seiten, DM 14.90]
SX 66
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