S. P. Somtow: Vanitas - Escape from Vampire Junction
S. P. Somtow: Vanitas - Escape from Vampire Junction
(TOR 1995, $ 23.95, 352 Seiten, Hardcover)
"Vanitas", das heißt Leere, das Nichts,
die Sinnlosigkeit. Die Realität, das ist Vanitas. Wie schon in "Vampire
Junction" zieht sich dieser Begriff als Schlüsselwort durch das gesamte
Buch. Im Untertitel heißt es "Flucht von Vampire Junction", und auch
das ist symbolisch gemeint, denn die Protagonisten befinden sich keineswegs
noch immer in Junction, Idaho. Zur Erinnerung: Der Knotenpunkt der symbolischen
Züge, die das Leben der Menschen verkörpern, war jener, wo der
Vampir wartet, um ihnen die Seelen wegzusaugen.
Nun ist Timmy Valentine aber kein Vampir mehr,
nachdem er seine unsterbliche Essenz auf Angel Todd übertragen hat.
Er versucht ein Comeback als Rockstar, was ihm aber nicht so recht gelingt.
Die Fans der Neo-Gothic-Szene sind zwar treu, aber die Kritik ist alles
andere als begeistert. Natürlich, ihm fehlt ja jetzt das gewisse Etwas,
und sei es nur, daß er atmen muß...
Zum ersten Mal in der Trilogie gewährt Somtow
nun auch einen tieferen Einblick in die Musik Timmys selbst. Der Leser
erlebt einige Konzerte seiner Welttour mit und es wird deutlicher beschrieben,
was da eigentlich auf der Bühne geschieht. Wie schon zuvor, spielt
das Buch in einer Realität, die nicht ganz die unsere ist.
Timmy hat also seine Magie verloren und damit
ein Problem. Seine beiden Freunde, der Halbindianer PJ und die Thailänderin
Premchitra (Chit) schlagen sich mit dem gleichen Verlust herum. PJ war
im zweiten Teil ein mächtiger Schamane, doch seine Kräfte verließen
ihn, nachdem die Schlacht gegen Simone Arleta geschlagen war. Auch Reverend
Damien Peters ist nur noch ein alternder Mann ohne Macht. Alles ist recht
deprimierend und melancholisch. Aber wozu sollten sie die Magie auch brauchen?
Die Vampire sind doch vernichtet.
Oder etwa nicht?
Da tauchen in Hollywood Vampir-Penner auf, die
von unseren Ex-Vampirjägern und dem Ex-Vampir Valentine beseitigt
werden. Dann sieht PJ auf den Bildern eines Malers, der in seiner Galerie
ausstellt, lauter tote, blutleere Frauen. In Bangkok. Es wird langsam klar,
daß der Kampf noch weitergeht.
Es ist natürlich Angel Todd, der Todesengel
- und dieses deutsche Wortspiel ist durchaus gewollt, der für das
alles verantwortlich ist. Im Gegensatz zu dem abgeklärten, zweitausend
Jahre alten Timmy ist er noch neu und verbittert. Timmys Handlungen durch
die Trilogie waren nie böse, nicht von boshafter Absicht getragen.
Er hat gelernt, daß es das Böse nicht gibt, und er hat Mitgefühl
erlernt. Doch die anderen Vampire sind nicht so. Angel leidet auch jetzt
noch unter seinem Kindheitstrauma, als er von seiner wahnsinnigen Mutter
mißbraucht wurde. Davor wollte er in den Tod fliehen, aber nun muß
er erkennen, daß es ihm nicht geglückt ist.
In Bangkok wird er von Chit und einem Blinden
Seher in ein Amulett gesperrt und so zeitweise in eine ähnliche Situation
gebracht wie Timmy im zweiten Teil. Timmy geht auf die Welttour, die ihn
ebenfalls nach Bangkok führen wird - und seine Abschiedstour ist,
obwohl das kein Fan weiß. Die Musikindustrie will ihn spektakulär
verschwinden lassen, um die Verkaufszahlen noch einmal anzukurbeln. Doch
allen wird bald klar, daß noch etwas anderes am Ende der Reise geschehen
muß. Der ehemalige Vampirjunge und sein Nachfolger Angel werden sich
wieder gegenübertreten müssen, denn ein Happy End ist hier unmöglich.
Immer mehr vermischen sich Gegenwart und Erinnerung
Timmys. Er ist so vielen Menschen begegnet, Kaisern und Künstlern,
Wahnsinnigen und Genies. Es wird in diesem Buch noch deutlicher, daß
Somtow Timmys Leben benutzt, um einen ganz anderen Blick auf die Menschheitsgeschichte
zu werfen.
Schließlich begegnet er auch ihm
- Vlad Tepes. Doch bei Somtow ist es nicht der gewohnte Bela-Lugois-Count,
sondern zuerst ist Tepes, genannt Dracula - kleiner Drache -, ein Junge,
der als Geisel bei den Türken im Kerker sitzt. Erst am Ende seines
Lebens, das ihm den Beinamen "Pfähler" einbrachte, wird er von dem
Vampirjungen ebenfalls zum Vampir gemacht.
Während in der Gegenwart alles auf das Ende
zusteuert, kehrt die Magie zumindest zu PJ in gewisser Weise zurück,
Chit wird von Angel gebissen, aber sie verändert sich noch nicht.
Eine völlig ausgeflippte Möchtegern-Vampirin vollbringt ein paar
scheußliche Verbrechen und gerät schließlich in Angels
Bann.
Man kann kaum versuchen, die Einzelheiten dieses
Buches wiederzugeben. Worauf soll man sich konzentrieren? Die Handlung?
Die tiefgreifenden philosophischen Implikationen? Die Symbole? Vor allem
an letzteren ist das Buch reich. Gleichzeitig ist Somtows Sprache präzise
und brillant, ebenso wie brutal und abstoßend, wenn es zur Situation
paßt. Sexualität spielt eine große Rolle - obwohl das
auf den ersten Blick erstaunen mag, sind doch die beiden Vampire, Timmy
und Angel, nur kleine Jungen, Timmy noch dazu kastriert. Aber es gab ja
genügend Perverse in der Geschichte und Gegenwart, die gerade solche
zu Lustobjekten machten. Somtow scheut sich nicht, geradezu unaussprechliche
Dinge zu schildern. Er kennt keine Tabus.
Die Trilogie war meine erste Begegnung mit Somtow
Sucharitkul. Zu wünschen wäre, daß ein Verlag wie Goldmann
den Mut dazu hat, auch noch den Rest zu veröffentlichen. Zu hoffen
wäre, daß die Übersetzung dabei besser ist, als bei den
meisten anderen Büchern des Verlages. Alles andere wäre schade.
Das ist für mich einfach Literatur auf genialem
Niveau. Der Autor stößt sämtliche Vampir-Klischees über
den Haufen, um seine eigene, fesselnde Version dieses Mythos zu schreiben.
SX 85
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