Stephen Baxter: Das Floß

Mit dem Floß durch die Unendlichkeit
Stephen Baxter: Das Floß
(Heyne 06/5162)


Der Text auf der Buchrückseite verheißt "Hardcore Science Fiction wie sie heute leider nur noch selten geschrieben wird." Und erstaunlicherweise stimmt das sogar.
Baxters (zumindest deutscher) Erstlingsroman ist SF mit einem wissenschaftlichen Hintergrund, der die Vorstellungskraft des Lesers ganz schön fordert. Allerdings versucht der Autor auch, diesen Hintergrund einigermaßen plausibel zu machen. Man muß nicht tatsächlich ein Gravitationsphysiker sein, um zu begreifen, worum es geht.
Hardcore SF wurde manchmal damit umschrieben, daß die wissenschaftliche oder pseudowissenschaftliche Idee der eigentliche "Held" der Geschichte sei. Das mag für Short Stories zutreffen, bei einem Roman geht es natürlich nicht an, daß die handelnden Personen bloße Schemen bleiben und hinter die mehr oder weniger überzeugende Idee zurücktreten. Baxter fand in seinem Buch eine geeignete Mischung aus beidem. Die Idee spielt eine herausragende Rolle, um sie dreht sich letztlich alles, aber auch die Menschen haben ihren Platz als Handlungsträger. Über ihre Erlebnisse und Empfindungen ist es ja erst möglich, die abstrakte Vorstellung, auf der ein Autor seine Welt aufbaut, dem Leser begreiflich zu machen.
Die Idee Stephen Baxters ist ein anderes Universum, in dem die Gravitationskonstante g milliardenmal größer ist als hierzulande. Was das bedeutet, bescheibt er sehr anschaulich im Verlaufe der Handlung mit einer Fülle von Beispielen. Man muß nicht wissen, daß das Gravitationsgesetz F = g * m1 * m2 / r2 lautet. Aber wenn man es weiß, sieht man sofort, daß wegen der riesigen Gravitationskonstante die Anziehungskraft zweier Massen m vielfach größer sein muß, als wir das gewohnt sind. Sogar menschliche Körper besitzen eine meßbare Gravitation. Die Lebensdauer von Sternen wird nach wenigen Jahren gemessen. Sie bilden sich an den Rändern von Gas- und Staubwolken und stürzen langsam in deren Kern, wo sich ein Schwarzes Loch von Millimetergröße befindet. Dadurch verbrauchen sich Wasserstoff und Helium in der Wolke in relativ kurzer Zeit. Falls ein Stern einmal nicht in den Kern der Wolke stürzt, erkaltet er zu einer kilometergroßen Eisenkugel, die jedoch Anziehungskräfte von mehreren g entwickelt.
Und mitten in diesem seltsamen Universum befinden sich Menschen aus dem unsrigen. Als die Handlung beginnt, leben sie schon seit vielen Generationen hier, seit ihr Raumschiff zufällig in dieses Universum verschlagen wurde und natürlich sofort auseinanderfiel. Aus den Resten des Schiffs bastelten die Überlebenden "das Floß", das den Kern eines Nebels umkreist. Ein Teil der Menschen lebt dort, ein anderer baut unter schwierigsten Bedingungen Eisen an der Oberfläche eines erkalteten Sterns ab, um daraus die verschiedensten Dinge zu fertigen. Die Luft im Nebel ist atembar, auch gibt es einheimisches Leben, das man sich inzwischen zunutze gemacht hat.
Aber der Nebel stirbt. Die Ressourcen versiegen und das Leben wird immer beschwerlicher. Weder die Wissenschaftler auf dem Floß, noch die Piloten der Bäume (welche man als Flugapparate nutzt), noch die restlichen Menschen sehen einen Ausweg.
Der Protagonist Rees ist ursprünglich ein jugendlicher Bergarbeiter im sogenannten Gürtel, einer Ansammlung von Kabinen, die den Sternenkern umkreist. Er ist überdurchschnittlich intelligent und stellt sich u.a. die Frage, was mit dem Nebel geschieht. Da die uralten Minenroboter sie ihm nicht beantworten können, schmuggelt er sich mit einem der Transportbäume auf das Floß. Trotz der Vorurteile und Anfeindungen, denen er gegenübersteht, gelingt es ihm, in die Reihen der Wissenschaftler aufgenommen zu werden.
Aber der Verfall des Nebels scheint sich im Verfall der Menschen widerzuspiegeln. Eine Revolte bricht auf dem Floß aus, die Wissenschaftler werden ins Bergwerk verbannt. Rees verschlägt es zu den Boneys, einer Gruppe von Ausgestoßenen, die tiefer kaum noch sinken können. Erstaunlich, was sich der Autor hier alles ausgedacht hat. Von ihnen gelangt er ins Innere eines "Wals", einer einheimischen Lebensform. Der Wal trägt ihn gleich einem Jonas durch den Nebel und zeigt ihm den Ausweg.
Zurückgekehrt auf das Floß, gelingt es Rees, die neuen Machthaber zu überzeugen, daß man zumindest ein paar hundert Menschen retten könnte, wenn es gelänge, den Nebel mit Hilfe eines Swing-by-Effektes um den Kern zu verlassen. Nicht, um ins heimatliche Universum zurückzukehren, denn das wäre mit dem Wrack technisch undurchführbar, sondern um einen jungen Nebel zu finden.
Und so endet auch das Buch. Mit den Resten des altersschwachen Raumschiffes setzen sich Rees und Gefolge ab, um einen weiteren Nebeln zu besiedeln. Dieses Universum ist ihre Heimat, die Rückkehr wird in weite Ferne verschoben. Das ist nur realistisch, sie hätten ohnehin nicht die technischen Möglichkeiten, in unserem Universum zu überleben.
Rees entwickelt sich von einem wissensdurstigen Jüngling zu einem innovativen Überlebenskünstler, schließlich zum Führer der vorwärtsstrebenden Menschengruppe. Die Tatsache, daß er allein den Weg weist, wird etwas abgemildert, als eine ganze Reihe von Erfahrungen - der Wissenschaftler, der Bergleute und sogar der Boneys - nötig wird, um seine Idee in die Tat umzusetzen. So vermeidet Baxter ein Abgleiten ins klischee- und unglaubhafte.
Auch der rapide Verfall der Kultur auf dem Floß, die sinnlose Revolte und der kurze Krieg zwischen Floßmenschen und Bergleuten ist einleuchtend. Konfrontiert mit der schier auswegslosen Situation brechen alte Strukturen gewaltsam zusammen und neue etablieren sich - nicht notwendig auch bessere.
Ich hätte mir jedoch eine Übersetzung gewünscht, die in sich konsistent wäre, aber leider konnte sich Martin Gilbert wohl manchmal nicht erinnern, wie er einige Ausdrücke ein paar Seiten zuvor übertragen hatte. Doch es hält sich in Grenzen.
"Das Floß" ist ein ausgezeichnetes Buch und für jeden Hardcore-SF-Fan zu empfehlen.
Was aber soll das heißen: "Rees grinste. Das Abenteuer, wurde ihm klar, war alles andere als vorbei. Es hatte vielmehr gerade erst begonnen."?

[Raft, © Stephen Baxter 1991, übersetzt von Martin Gilbert 1994, 332 Seiten, DM 12.90] 

SX 58

 

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