Stephen King: es

Stephen King: es
(Heyne 01/8702)


Wie beginne ich nun diese Rezension? Schreibe ich, daß ich eigentlich kein ausgesprochener King-Fan bin? Aber das spielt keine Rolle, da ich mich nicht gerade als Fan irgendeines bestimmten Autors betrachte. Oder soll ich schreiben, daß ich den Film zu "es" nicht kenne? Vielleicht ist das nur gut so. Oder vielleicht, daß ich auch kein Horror-Fan bin, obwohl ich diese Art Literatur hin und wieder gern lese?
Ich denke, ich beginne mit dem Clown.
Beim Durchblättern einer Fernsehzeitschrift fiel es mir auf. Ich glaube, ich werde in der nächsten Zeit - oder vielleicht für immer? - keinen Clown mehr sehen können, ohne mich mit einem leichten Erschaudern an Pennywise zu erinnern. An ES. Für alle, die das Buch eventuell doch noch nicht kennen - das Böse in "es", welches von den Helden nur als ES bezeichnet wird, tritt vorzugsweise in Gestalt eines Clowns auf. (Um Kinder anzulocken, wie Pennywise, der Clown, selbst zugibt.)
Es ist schwer, über diesen Roman etwas zu schreiben. Nicht nur, weil das bereits viele getan haben, sondern vor allem, weil er so vielschichtig ist, wenn man das als das richtige Wort betrachten will. Es geht King nicht nur um eine 1100 Seiten lange Horrorgeschichte, sondern ganz offensichtlich um viel mehr. Dieses Mehr an Inhalt und Aussagekraft des Buches hier zu erfassen, erscheint mir nicht einfach.
Um nur zwei Worte zu nennen, wichtige Anliegen Kings sind Gleichgültigkeit gegen Gewalt und das Verhältnis von Erwachsenen zu Kindern, bzw. von Kindern untereinander. Natürlich überspitzt er beide Probleme in seiner Stadt Derry ungeheuer, aber so ganz unglaubwürdig oder gar phantastisch sind sie dann doch wieder nicht. Er begründet die bösartige Atmosphäre in Derry mit der Anwesenheit von IHM - jedoch kann der Leser nicht ganz sicher sein, ob nicht die Anwesenheit von IHM durch die Atmosphäre der Stadt bedingt wird.
Was ist nun ES? King hat es nicht nötig, genau zu erklären und zu begründen, was dieser Schrecken eigentlich darstellt. Er gibt jedoch gewisse Ansatzpunkte. Man kann sich zusammenreimen, daß ES irgendwann in der Urzeit aus einer Art Überuniversum in unseres eindrang und sich an der Stelle, wo heute Derry liegt, niederließ. Andererseits ist ES aber kein Wesen, sondern befindet sich zu einem großen Teil immer noch in jenem Makroversum. Kings "kosmische" Erklärung bleibt vage und undurchschaubar. Sie ist vermutlich bewußt so angelegt, daß man ihr entweder keine Beachtung schenkt, oder sie den Leser mystifiziert. Neben IHM gibt es da nämlich noch Die Schildkröte, die allem Anschein nach das hiesige Universum erbrochen hat, und dann noch eine noch undurchsichtigere Macht weiter im Hintergrund, die angeblich alles geschaffen hat. Eine Art Religion, aber eine recht merkwürdige. In einem gewissen Sinne stellt ES das Böse schlechthin in diesem Universum dar. Seine Taten sind so, daß man sie mit dem Wort teuflisch nur verharmlosend umschreiben kann. Aller 27 Jahre etwa erwacht ES, um Angst und Schrecken über Derry zu bringen. Vor allem über kleine Kinder. Scheinbar frißt ES sie, aber eigentlich, wie sich am Schluß herausstellt, ernährt ES sich eher von "Dingen" wie Phantasie und Angst. Daher kann es auch jede Gestalt annehmen, die ES als schrecklichste für die jeweilige Person erkennt. ES scheint allmächtig zu sein, doch hat ES auch Schwächen. Diese nutzen die Helden des Buches aus, um der Bedrohung schließlich ein Ende zu bereiten.
Diese Helden sind Kinder, andererseits auch Erwachsene, aber dazu später. Die sieben Kinder aus Derry haben eine Gemeinsamkeit. Sie sind alle irgendwie benachteiligt und ziehen sich dadurch den Spott und Haß von Mitschülern und vor allem einer Gruppe größerer Jungs zu. Wer mit Kindern zu tun hat, weiß, daß dieser Teil keineswegs übertrieben dargestellt ist. Die Verfolgung der Gruppe durch die negative Figur Henry Bowers eskaliert zwar schließlich ins stark Überhöhte, ist aber bis dahin durchaus realistisch.
Die Gruppe der Kinder besteht aus einem Stotterer, einem von seiner Mutter zu psychosomatischen Asthma getriebenen Jungen, einem Juden, einem Schwarzen, einem sehr vorwitzigen Brillenträger, einem Übergewichtigen, dessen Mutter an seinem Zustand schuld ist, und einem Mädchen, das von seinem Vater anscheinend mit sexuellem Hintergrund verprügelt wird.
Anfangs stehen die Protagonisten isoliert da, doch sie finden im Laufe des Geschehens zu ihrer Gemeinschaft zusammen, die sie bezeichnenderweise "Klub der Verlierer" nennen. Sie haben - nachdem sie mit IHM konfrontiert worden sind - den Eindruck, eine besondere Macht führe sie gezielt zusammen. Ob das jene Hintergrundmacht des Universums (Gott?) ist, bleibt im Dunkeln. Sie nehmen den Kampf gegen das monströse Nicht-Wesen auf, das nur sie sehen können, weil sie mit bemerkenswerter Klarheit erkennen, daß kein Erwachsener ihnen glauben und helfen würde.
Der Roman ist konsequent in zwei Haupthandlungsebenen aufgeteilt. Würde diese Art des ständigen Vor- und Zurückblendens zwischen Kindheit im Jahre 1958 und Erwachsenenalter 1985 im Normalfall verwirren und ein Buch zur Qual machen, so ist das bei King nicht der Fall. Im Gegenteil: diese Methode trägt wesentlich zum Aufbau der Spannung bei.
Der Rest der Spannung wird vor allem dadurch erzeugt, daß die Erwachsenen, die zurück nach Derry kommen, weil ES wieder erschienen ist, sich nicht mehr an die Ereignisse in ihrer Kindheit erinnern können, bzw. sie vergessen hatten, während die Erinnerung jetzt schrittweise zurückkehrt. Zwar ist immer klar, daß die Sache für die Kinder gut ausgehen muß, da sie ja alle als Erwachsene leben, aber sie durchlaufen trotzdem genug gefährliche Situationen. Meisterhaft, wie King durch Andeutungen und unklares Geschehen den Leser gespannt auf das macht, was die Kinder in der Retrospektive erleben, während parallel dazu auch die Handlung im Derry von 1985 eskaliert.
Natürlich fehlt der Horror, wie man ihn erwartet, auch nicht. Die Szenen, in denen ES mordet, sind wirklich äußerst brutal. Andererseits wirkt Kings Erzählstil vor allem zu Anfang des Buches eher kühl und distanziert. Er nimmt bewußt eine allwissende Erzählerposition ein, ja, er spricht den Leser mehrfach sogar direkt an. Das verliert sich dann später, aber auch dies trägt zur Stimmung des Buches bei.
Nachdem die Kinder die Schrecknisse von 1958 beenden konnten, trennten sie sich und vergaßen alles. Das ist zu verstehen, weil sie andernfalls an der Erfahrung hätten wahnsinnig werden müssen wie Henry Bowers. Nicht ganz verständlich war mir das schnelle Vergessen der Erwachsenen nach ihrem zweiten Sieg. Es wird als das Opfer hingestellt, das gebracht werden mußte: seine Kindheit und Freunde zu vergessen. Die Tatsache selbst wäre für mich noch zu akzeptieren gewesen, aber wer war denn nun eigentlich für das unnatürliche Vergessen verantwortlich? Dieser Hintergrund-Gott? ES bestimmt nicht, denn das haben sie ja getötet oder zumindest vertrieben. Aber dieser etwas traurige Schluß ist das einzige, was mir nicht so gefiel. Der Rest des Buches ist derart, daß ich sagen kann, dieses war das beste Buch, welches ich von King bisher lesen konnte.
 

[IT, (c) Stephen King 1986, übersetzt von Alexandra von Reinhardt, bearbeitet und teilw. neu übers. von Joachim Körber 1993, 1097 Seiten, DM 15.00: erstmalig als TB]

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