Tom Holt: Wir haben Sie irgendwie größer erwartet

Tom Holt: Wir haben Sie irgendwie größer erwartet
(Heyne 06/5107)


Wagner und insbesondere die widersinnige Nibelungensaga konnte ich noch nie leiden, deshalb freut es mich, daß auch Tom Holt genauso denkt. Er nutzt das Thema, um wieder einmal die Materie richtig durch den Kakao zu ziehen.
Der Held der Geschichte ist auch diesmal ein ganz normaler, eher (sehr) durchschnittlicher Mensch, der sich plötzlich mit der lebendig gewordenen Sagenwelt konfrontiert sieht. Nach den alten Wikingern und dem Fliegenden Holländer kommt nun die germanische Götter- und Heldendichtung dran.
Es stellt sich heraus, daß nach Siegfrieds Tod der Ring des Nibelungen nicht im Rhein versank und seine Tarnkappe nicht auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Der letzte Eisriese namens Ingolf klaute klammheimlich die wertvollen Gegenstände und wurde seither von der germanischen Götterwelt gejagt. Clevererweise verwandelte er sich aber in einen Dachs und grub sich ein, so daß ihn keiner finden konnte.
Der mittelmäßige, von Komplexen geplagte (Anti-)Held Malcolm Fisher überfährt eines Nachts diesen Dachs, und der sterbende Riese gibt ihm Ring und Tarnkappe, obwohl er eigentlich jemanden erwartet hatte, der ein wenig imposanter aussah. Dadurch wird Malcolm zum "Herrscher der Welt" und zum Zielobjekt für Wotan und Co.
Relativ rasch findet Malcolm heraus, wie er sich des Ringes und der Kappe bedienen kann, um erst einmal reich und schön zu werden. Zufällig nimmt er dabei die Gestalt Siegfrieds an. Der Effekt des Ringes, der ihn zum "Herrscher" macht, bringt die Welt in Windeseile in einen Idealzustand, da Malcolm eigentlich ein herzensguter Mensch ist. Er übersteht ohne Probleme verschiedene Vorstöße der Götterclique, bis er sich in eine von Wotans Töchtern verliebt. Doch auch das führt nicht dazu, daß er den Ring wieder her gibt, was Wotan zum letzten aller Schritte treibt. Er greift mit all seinen himmlischen Heerscharen an - nur um von Malcolm fast nebenbei ausgelöscht zu werden.
Eigentlich wäre die Handlung etwas dürftig, wenn sie nicht durch den Witz Tom Holts angereichert würde, der in schon bewährter Manier mit Anachronismen um sich wirft. Das Buch lebt allein von diesem Humor und der Idee an sich. Man kann es sehr schnell lesen und muß dabei aufpassen, wo man sich befindet, um nicht seine Umgebung durch lautes Auflachen zu erschrecken.
Betrachtet man den Inhalt etwas intensiver, werden allerdings auch einige Unzulänglichkeiten offenbar. Die Gestalt Malcolms macht einen Wandel durch, der nicht genügend motiviert erscheint. Auch das plötzliche Interesse der weiblichen Protagonisten an ihm ist etwas konstruiert, nachdem er zuvor arge Probleme mit seinen Beziehungen hatte. Schließlich ist die Lösung doch ziemlich simpel dargestellt, aber das ist wohl schon wieder ein gewollter humoristischer Effekt.
Die kleinen Oberflächlichkeiten schaden dem Buch aber keineswegs. In gekonnter Weise setzt Holt die Details der Nibelungensage in ein anderes (wenn auch absurdes) Licht, wobei er Seitenhiebe in weitere Richtungen austeilt. Malcolm wird z.B. ständig als der "Ringträger" bezeichnet, was an Tolkien erinnert, wie überhaupt die Thematik mit Ring und Macht und Fluch. Das Lokalkolorit englischen Landlebens, bzw. eines gottverlassenen Nestes (der letzte Landstrich, den Gott erschaffen hat) kommt dazu.
Da man recht spät begonnen hat, Tom Holt auf Deutsch zu veröffentlichen, hängt sein Erscheinen nun vorläufig nur von der Geschwindigkeit der Übersetzung ab. Zwei weitere Bände sind in Vorbereitung, mehr angekündigt. Bisher hat sich sein "Schema" "Normalbürger-Held trifft auf real gewordene Sagenwelt" noch nicht erschöpft. Man wird sehen, ob sich die Qualität auch weiterhin hält.

[Expecting Someone Taller, (c) Tom Holt 1987, übersetzt von Kalla Wefel 1994, 302 Seiten, DM 12,90]
 
SX 50


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