Victor Kelleher: Das Tier des Himmels

Victor Kelleher: Das Tier des Himmels
(Heyne 065194)


Eigentlich wollte ich das Buch gar nicht lesen. Aber dann sah ich, daß der Übersetzer, Jakob Leutner, es für nötig gehalten hatte, einen ausführlichen Anhang zu schreiben. Das machte mich neugierig und plötzlich fand ich mich mitten im Buch wieder.
Der Anhang ist tatsächlich notwendig, und man muß die Leistung Jakob Leutners hoch anerkennen, der sich mit erstaunlichem Aufwand bemüht hat, das Verständnis des Lesers für dieses Buch zu fördern. Es ist nicht so, daß man den Text ohne die Erklärungen gar nicht verstünde, aber auf jeden Fall würde dem durchschnittlichen Leser nicht aufgehen, was Victor Kelleher eigentlich will und meint. Das Buch ist außergewöhnlich vollgepackt mit Symbolen und Anspielungen, die der Autor z.T. wörtlich der Bibel oder John Miltons "Das verlorene Paradies" entnommen hat.
Das klingt ganz nach schwerem Stoff - ist es aber nur teilweise. Der Inhalt ist in zwei Ebenen gegliedert: eine aktive, echte Handlung und eine philosophisch-existenzielle Debatte. Letztere wird im Rahmen eines "vergessenen" Experiments von zwei Künstlichen Intelligenzen geführt, die dabei überraschende Persönlichkeitswandlungen durchmachen. Letztlich stellt sich zwischen ihnen ein Verhältnis wie zwischen Gott und Satan ein, nachdem sie u.a. eine Phase des Irrsinns durchmachten. Das ist kein Wunder, denn sie blieben sich über 100000 Jahre selbst überlassen. Das Ziel der Debatte ist es, zu entscheiden, ob dem Menschen die Verfügungsgewalt über "das Instrument" - offensichtlich eine Kernwaffe - überlassen werden kann und soll. Dieses Ziel an sich ist absurd, wie sich zeigt, denn die Menschheit hat sich längst mit derartigen Waffen selbst vernichtet.
Die eigentliche Handlung spielt sich im Rahmen einer Gruppe von "Sammlern" ab, die in der wüsten Einöde hunderttausend Jahre danach lebt. Man ernährt sich von Staubpilzen oder einfach nur Staub und zieht nomadisierend durchs Land. Aber unter den Sammlern befindet sich auch Pella, die lesen kann und eine überlieferte Tasche voller Mikrofiche mit sich trägt. Die Sammler beten "die Alten" an, und Hyld, ein "Sensor", hört gar die Stimmen jener toten Vorfahren unter der Erde. Die Sammler werden von einem Monster gejagt, dem Houdin, der allen Beschreibungen nach äußerlich haargenau wie Satan selbst aussieht. Auf der Flucht vor ihm und auf der Suche nach Nahrung gelangen die Sammler um den Haupthelden Hyld an den Ort, wo in einer unterirdischen Anlage die beiden KIs vor sich hin dämmern.
Hier stoßen Pella und Hyld auf ein schreckliches Geheimnis der verehrten Alten. Die beiden Computer werden von ihrem Warten erlöst und diskutieren ein letztes Mal über die Frage, ob "das Instrument" übergeben werden soll oder nicht. Als der Houdin, das Tier des Himmels, wieder auftaucht, fällt schließlich die Entscheidung.
Was die Sammler in dem Bunker entdecken und erfahren, wirft vor allem ein erschreckendes Licht auf die Menschen von heute. Während Hyld systematisch seine Illusionen über die Alten, also uns, verliert, gewinnt die bis dahin schwer verständliche und akademische Debatte der Computer immer mehr an Bedeutung. Es scheint tatsächlich nicht mehr um eine eher symbolische Bombe zu gehen, sondern um ein Urteil über die Menschheit insgesamt - das Jüngste Gericht? Der dramatische Höhepunkt kommt, als Hyld in der Bunkerkapelle eine Jesusfigur findet. Voller Grauen sieht er das wahre mörderische und selbstmörderische Gesicht der Alten, ruft er aus, er habe gesehen, was sie mit einem der Ihren gemacht hätten, im selben Augenblick, in dem er sich selbst aufopfert. Hyld, der zuvor die Seelen (?) der im Bunker gestorbenen Alten ebenso besänftigt und ihnen Frieden schenkt wie den Seelen der unzähligen zu Tode gequälten Versuchstiere im Labor, ist deutlich eine messianische Gestalt.
Danach fliehen die Sammler vor der scharfgemachten Bombe wieder in die Berge, sie explodiert, ohne freilich den Houdin zu vernichten, aber sie erweist sich als Segen für das Leben. Dieses ist schon derart mutiert, daß es sich von radioaktiven Abfällen ernähren kann, denn das ist alles, was es auf dieser Welt noch gibt.
Eine bedrückende Vision der Zukunft und gleichzeitig eine tiefgehende Infragestellung vieler unserer heutigen Gedanken und Taten. Wer ist letztlich für die Explosion einer Atombombe über Hamburg und anderswo in der Welt verantwortlich? Nur derjenige, welcher den Knopf drückt? Oder diejenigen, die zuließen, daß Kernwaffenarsenale angelegt wurden? Nicht ganz so pragmatisch, aber anspruchsvoller, sind die Fragen zu moralischen und religiösen Auffassungen, die Victor Kelleher stellt.
Der Roman erschien in Australien bereits 1984. Sieht man heute die Gefahr eines Atomkrieges (vielleicht fälschlicherweise) auch nicht mehr als so drängend an, im Gegensatz zu anderen Gefahren, die ein Ende der Menschheit verheißen, so beschränkt sich das Buch doch keinesfalls auf eine "Warnung" vor Atomwaffen. Die nukleare Zerstörung der Welt wird beinahe ebenso auf ein Symbol reduziert wie die letzte Bombe, die den Sammlern als Fluch oder Geschenk überlassen wird. Die Erkenntnisse, die Hyld und Pella gewinnen, zeigen dem Leser, daß die Bestie, zu welcher der Mensch in dieser Welt geworden ist, schon immer in ihm steckte.
Natürlich kann man auch in diesem Roman Parallelen zu anderen Büchern des Genres finden - aber nur in Form von Äußerlichkeiten. Silverbergs "Am Ende des Winters", das ganz ähnliche Charaktere beinhaltet, wurde gar erst 1988 veröffentlicht. Übrigens enthalten beide Bücher dasselbe logische Problem in Bezug auf die kulturellen Eigenschaften der Protagonisten - hier die Sammler. Um die Pointe nicht zu zerstören, möchte ich darauf hier nicht näher eingehen.
"Das Tier des Himmels" wurde 1985 als bester australischer SF-Roman mit dem "Ditmar Award" ausgezeichnet.
Ein Buch, das nicht einfach zu lesen ist, dessen Bedeutung sich nur mit hoher Aufmerksamkeit erschließt, das dennoch sehr lesenswert ist. Denjenigen, die einmal etwas fernab des Mainstreams der SF lesen wollen, die Religion nicht nur als den kranken, selbsttäuschenden Aberglauben eines großen Teils der Menschheit ansehen, sondern als einen tiefergehenden philosophischen Denkansatz, soll dieser Roman empfohlen sein.

[The Beast of Heaven, © Victor Kelleher 1984, übersetzt und mit einem Anhang versehen von Jakob Leutner 1994, 266 Seiten, DM 12.90]

SX 59


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

David Gerrold: Inmitten der Unendlichkeit

Jack McDevitt: Die Küsten der Vergangenheit

Piers Anthonys Xanth