Walter Jon Williams: Aristoi
Walter Jon Williams: Aristoi
(Heyne 06/5346)
Jim Burns' Titelillustration ist nicht nur tatsächlich auf den
Inhalt des Buches bezogen, sondern trifft mit seinem besonderen, detailversessenen
Stil auch hervorragend den Stil des Romans. So viele Details und Kleinigkeiten
werden geschildert, so präzise ausgemalt, daß man es eigentlich
gar nicht beschreiben kann. Die plumpen Sätze des Rezensenten vermögen
nicht annähernd einen Eindruck von dem eigentlichen Buch zu vermitteln.
Auch die Handlung ist vielschichtig und komplex, man könnte vielleicht
auch sagen, in fast experimenteller Weise erzählt. Streckenweise erfolgen
zwei Handlungen parallel, dann ist die Seite in Spalten aufgeteilt. Wie
man das liest, muß man selbst herausfinden.
Worum geht es nun? Der Begriff der Nanotechnologie dürfte bei
allen SF-Lesern zumindest schon mal gewisse Vorstellungen wecken. Nanomaschinen,
oder nur Nanos wie hier, sind hypothetische Mechanismen in Nanometergröße,
mit denen man so ziemlich alles anstellen kann. Das heißt, diese
sogenannten Maschinen im weitesten Sinne des Wortes funktionieren auf molekularer
Ebene. Diese Technologie ist allerdings auch gefährlich. Die Maschinen,
die ja irgendwie programmiert sein müssen, können auch Programmfehler
haben. Sie können mutieren - jedenfalls in der Art von Computerviren
oder so. Die außer Kontrolle geratenen "Mataglap"-Nanos sind so gefährlich,
daß sie die Erde mitsamt 8 Milliarden Menschen vernichtet haben.
Andererseits ist die Nanotechnologie für den Rest der Menschheit unverzichtbar.
Die Menschheit ist inzwischen so mächtig, daß sie sogar in der
Lage war, die Erde2 wieder zu rekonstruieren.
Es gibt eine Klasse (?) von hochbegabten und verantwortungsvollen Menschen,
denen man diese brisante Technologie anvertraut hat - die Aristos. Sie
sind die unbeschränkten Herrscher, wenn sie erst einmal die Prüfungen
bestanden haben und ihnen eine Domäne zugeteilt wurde. Sie können
mittels der ihnen zur Verfügung stehenden Technik wahre Wunder vollbringen.
Außer den Nanos helfen ihnen dabei vor allem ein die Galaxis umspannendes
hyperschnelles Informationsnetz und die implantierten Renos - eine Art
interne Kommunikations- und Speichereinheit, über die sie sich auch
in die virtuelle Realität des Oneirochronons einloggen können.
Der Begriff Reno wird nicht erklärt (es sind keine Schuhe), Oneirochronon
hingegen bedeutet meiner Meinung nach "Traumzeit" - sehr interessant!
Den Aristos und auch ihren Untergebenen der höheren Stufe steht
noch etwas zur Verfügung. Daimonen heißen sie - und sie sind
sogenannte fragmentierte Persönlichkeiten innerhalb der Personen selbst.
Heute würde man die Aristos wahrscheinlich mit multipler Schizophrenie
diagnostizieren. Sie beherrschen jedoch ihre Daimonen und stellen sie zu
verschiedenen Arbeiten und Hilfsfunktionen an. So kann ein Aristo gleichzeitig
mehrere Dinge tun, z.B. in der Realität mit einer Person sprechen
und im Oneirochronon mit einer anderen essen - möglicherweise am anderen
Ende der Galaxis - während ein weiterer Daimon gerade eine Datenbankrecherche
durchführt.
Bedeutsam ist, daß die Aristos keineswegs von der Macht korrumpiert
worden sind. Ihr Titel bedeutet hier nur "der Beste" und hat nichts mit
dekadenten Aristokraten zu tun. Sie leisten einen Eid, dem Wohl der Menschen
zu dienen, und natürlich ist der Titel auch nicht erblich, sondern
wird verliehen.
Allerdings wäre das sicher kein so spannendes Buch geworden, wenn
es da nicht ein paar böse Abweichler gäbe. Die haben sich Welten
geschaffen, auf denen sie die Bevölkerung unter steinzeitlichen bis
mittelalterlichen Bedingungen dahinvegetieren lassen, ohne ihnen die Errungenschaften
der Menschheit zur Verfügung zu stellen. Angeblich tun sie es, um
eine alternative menschliche Zivilisation heranreifen zu lassen, weil sie
die der Aristos für degeneriert halten. Dem Leser ist jedoch zu diesem
Zeitpunkt bereits klar, daß es nicht an dem ist. Was Williams beschreibt,
ist geradezu eine echte Utopie. "Menschen wie Götter" - der Begriff
ist vollkommen zutreffend. Konsequenterweise endet das Buch nicht etwa
mit einem reumütigen Besinnen auf das einfache Menschsein, sondern
der Held sagt sich, nachdem er am eigenen Leib erfahren hat, wie es ist,
kein Übermensch mehr sein zu dürfen, daß er darauf gerne
verzichten kann. Die Menschen haben in den Aristos eine qualitativ höhere
Stufe ihrer Entwicklung erreicht, und es ist nichts dagegen einzuwenden,
wenn sie die Lebensweise ihrer Vorfahren hinter sich lassen.
Die Handlung - um auch dazu ein paar Worte zu verlieren - dreht sich
mehr oder weniger darum, wie der Aristo Gabriel der oben genannten Verschwörung
auf die Schliche kommt und seine Gegenmaßnahmen ergreift. Es spricht
für die Vielfalt dieser Persönlichkeit und ist ein anschauliches
Beispiel dafür, was Aristos eigentlich ausmacht, daß Gabriel
dabei nicht nur mit seinem kleinen Privatkrieg beschäftigt ist; nein,
er komponiert nebenbei noch eine Oper, liebt mindestens vier verschiedene
Menschen und treibt noch ein paar interessante Dinge mehr.
Als ich die über 600 Seiten fast in einem Zug durch hatte, gingen
mir die Einzelheiten lange nicht aus dem Kopf. Immer wieder mußte
ich an die verschiedenen, überraschenden Wendungen und die erstaunlichen
Details denken, mit denen der Autor sein Werk versehen hat. Wie gesagt,
eine Rezension wird dem Buch wohl kaum gerecht.
Also nur noch eins: Daumen nach oben - eine Top-Empfehlung für
die Freunde guter und anspruchsvoller SF.
Aristoi, (c) by Walter Jon Williams 1992, übersetzt von Jakob Leutner 1996, 618 Seiten, DM 16.90
SX 76
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