Walter Jon Williams: Tage der Sühne

Walter Jon Williams: Tage der Sühne
(Heyne 06/5370)


Es war ein Schuß ins Blaue, als ich mir vornahm, das Buch zu lesen, aber er hat ins Schwarze getroffen. Walter Jon Williams war mir bisher unbekannt, auch das (inzwischen ziemlich veraltete) SF-Lexikon erwähnt ihn noch nicht. Nun scheint mir, daß man sich den Namen durchaus merken sollte. Vielleicht ist auch der andere Roman von ihm, den Heyne soeben herausbrachte - "Aristoi" der Titel - so gut wie der vorliegende.
"Tage der Sühne" handelt in der nahen Zukunft, kurz nach der Jahrtausendwende. Daß es um zukünftige Geschehnisse geht, merkt man nur an Bemerkungen der handelnden Personen und einigen technischen Neuerungen. Schauplatz ist der kleine Ort Atocha in New Mexico, in dem ein buntes Gemisch von über 40 religiösen Strömungen zu Hause ist. Die Religion spielt durchaus eine große Rolle in diesem Roman. Seine Hauptperson, der Polizeichef Loren Hawn, ist selbst ein recht religiöser Mensch. Die Kirche, der er angehört, hat aus dem einem traditionellen Sühnetag (Atonement Day) eine ganze Woche gemacht, während der sich die Menschen ihrer (Tod-)Sünden besinnen sollen. In dieser Zeit handelt das Buch.
Der Kupferbergbau in Atocha ist gerade eingestellt worden. Die Polizei sieht sich mit wütenden, betrunkenen Bergarbeitern konfrontiert. Hawn hat alle Hände voll zu tun. Da geschieht plötzlich etwas Ungewöhnliches: Ein Angeschossener taumelt in die Polizeistation und stirbt. Nicht das ist ungewöhnlich, aber der Mann ist seit zwanzig Jahren tot!
Der Grund für sein rätselhaftes Auftauchen scheint in einem merkwürdigen Institut namens ATL zu suchen zu sein, das ein wenig außerhalb der Stadt gelegen ist. Die Sicherheitskräfte des ATL sind nicht gerade kooperativ, so muß Hawn auf sich gestellt nachforschen. Man legt ihm auch von seiten der Stadt Steine in den Weg, weil ATL die einzige Hoffnung in der Wirtschaftskrise zu sein scheint. Doch der Polizeichef gibt nicht auf und enträtselt den Fall natürlich.
Das klingt banal. Ist es aber nicht, denn Williams versieht diese recht einfache Handlung - natürlich gibt es eine Art Zeitverschiebung durch ein Experiment der Wissenschaftler - mit einer ganzen Reihe Nuancen, die den SF-Teil mit gut in Szene gesetzten pseudowissenschaftlichen Erklärungen fast als Nebensache erscheinen lassen. Zuerst einmal ist Hawn eine Art Antiheld. Der Mann ist jähzornig, selbstherrlich und brutal. Er sieht sich in seinem religiösen Wahn als Schwert und Arm des Herrn. Seine Methoden sind nicht nur fragwürdig, sondern ungesetzlich. Am Ende läuft er - mehr oder weniger berechtigt - Amok. Da ihm die Politiker nicht gestatten, den Fall weiter zu verfolgen und die Täter dingfest zu machen, verfolgt er den Fall im Zwangsurlaub weiter und legt die Täter einfach um.
Für die braven Bürger Atochas ist es völlig uninteressant, daß ein paar Fremde in ihrem Ort getötet wurden. »Fremde sterben. Es ist das gleiche, als wäre es in Afrika oder sonstwo passiert. Hast du Schuld an Afrika?« (S. 428) Hawn, der vor allem seine Stadt sauber halten will, sieht das nicht ein und verstrickt sich immer tiefer in die eigene Schuld. Die Tage der Sühne werden für ihn zu Tagen der Schuld bzw. Sünde, doch das sieht er selbst ganz anders. Und so kommt es zum apokalyptischen Ende.
Das Buch ist mehr als nur ein SF-Roman um eine technische oder wissenschaftliche Idee. Williams nimmt sich die Scheinheiligkeit der amerikanischen Religiösität ebenso vor wie das Sektentum und den biederen Kleinbürger. Bitterböse stellt er sie alle bloß und demontiert Schritt für Schritt das Bild des gottesfürchtigen Gesetzeshüters. Am Ende sieht man den beinahe fanatischen Schläger, der so selbstherrlich ist, daß er unaufhaltsam ins Verderben rennen muß. Und doch ist er der einzige, der in der Lage ist, den noch viel schlimmeren Verbrechern das Handwerk zu legen.
Der Autor löst diesen Widerspruch, der eine Stellungnahme von ihm verlangt, auf überraschende Weise. Hawn wird beim Showdown von dem einen Guten auf der Gegenseite getötet (er trägt eine Maske und ist daher nicht zu erkennen), lebt aber dennoch weiter, weil ihn offenbar kurz vorher ein weiteres Experiment der Physiker irgendwo in eine andere Zeit versetzt (oder eher kopiert) hat. Bestrafung und Lohn in einem.
 

Days of Atonement, (c) by Walter Jon Williams 1992, übersetzt von Brigitte Gruss 1996, 574 Seiten, DM 16.90 

SX 74

 

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