Vernor Vinge: Der Friedenskrieg & Gestrandet in der Realzeit
Vernor Vinge: Der Friedenskrieg &
Gestrandet in der Realzeit
(Heyne 06/4565 & 4566)
Durch "Ein Feuer auf der Tiefe" (siehe
SX 63) bin ich auf Vernor Vinge aufmerksam geworden. Da bleibt es natürlich
nicht aus, daß auch die früher erschienenen Sachen gelesen werden.
Und sie haben mich nicht enttäuscht. Auch die beiden zusammenhängenden
Bände zeichnen sich durch einen verblüffenden Ideenreichtum und
ungeheure Maßstäbe aus. V. Vinge hat wahrhaftig keine Angst
vor Superlativen!
1997 bricht der dritte Weltkrieg aus.
Allerdings wird er nicht von irgendeinem Staat oder Bündnis angezettelt,
sondern eine Gruppe von Wissenschaftlern in Livermore, USA, die insgeheim
eine neue Superwaffe entwickelt hat, entschließt sich, die Weltherrschaft
zu übernehmen. Alle Gegner und Regierungen der Welt werden von den
Wissenschaftlern und Bürokraten der Verschwörung kurzerhand in
große, spiegelnde Kraftfelder eingeschlossen, die sogenannten Blasen,
die sich selbst erhalten, wenn sie einmal erzeugt sind. Man geht allgemein
davon aus, daß die Menschen in den Blasen zum Erstickungstod verurteilt
sind. Außerdem gibt es einen kurzen, konventionellen Schlagabtausch
- jedenfalls bis alle verblast sind, die Schläge austeilen
können, und eine Reihe von künstlichen Seuchen bricht unter der
Menschheit aus.
Alles sehr praktisch, denn nun kann das
Friedensamt die befriedete Welt in aller Ruhe beherrschen.
Jahrzehnte später ist biologische
und medizinische Forschung verboten, angetriebene Fahrzeuge ebenso, und
das Friedensamt beherrscht noch immer die Welt. Nur die sogenannten Bastler
haben eine Art Untergrund, in dem sie gegen das Amt wirken. Sie sind, wie
sich bald zeigt, durch ihre relative Unabhängigkeit technisch fortgeschrittener
als ihre Unterdrücker, obwohl sie keinen Blasengenerator haben. Vor
allem auf dem Feld der Computer-Mensch-Verbindung und Miniaturisierung
haben sie einiges erreicht.
Das Geschehen wird dadurch ins Rollen
gebracht, daß plötzlich die Blasen zu platzen anfangen. Unter
anderem wird ein amerikanisches Raumschiff wieder befreit, das die Livermore-Aktivitäten
beobachten sollte, aber seine Ergebnisse nicht mehr melden konnte. Schnell
wird klar, daß in den Blasen die Zeit stehengeblieben war - und niemand
ist erstickt!
Für den Leser kommt das leider nicht
mehr als Überraschung, denn der Verlag schreibt direkt auf das Titelbild:
"Ganze Städte lassen sich durch Dimensionsblasen vor Vernichtung schützen
- doch in ihnen steht die Zeit still!" Den Umstand ignorierend, daß
sich die verblasten Orte keineswegs "schützen" lassen, sondern
daß das Verblasen ein aggressiver Akt war, demonstriert hier der
Umschlaggestalter aus dem Atelier Ingrid Schütz in München nicht
nur absolute Unkenntnis des Buches, sondern auch völlige Unsensibilität
in Sachen Buchgestaltung. Sehr schade.
Der erste Band dreht sich vor allem darum,
wie es den Bastler-Rebellen gelingt, unter Führung eines der ursprünglichen
Wissenschaftler und eines kleinen, aber genialen Jungen, das Friedensamt
zu stürzen. Das scheint kein besonders verwickelter Plot zu sein,
aber V. Vinge schafft es, daraus eine spannende hard SF Handlung zu zaubern,
bei der auch die Charaktere der Helden nicht zu kurz kommen. Der kleine
Junge namens Wili entwickelt sich dabei zur Hauptgestalt. Seine Genialität
ermöglicht ihm u.a. einen intensiven Kontakt mit dem Computernetzwerk,
so daß er für viele Probleme Lösungen finden und auch direkt
beim Gegner eingreifen kann.
Das Buch endet damit, daß einer
der Helden meint, in der Blasen-Theorie würden sich bestimmt noch
mehr Überraschungen verstecken. Genauso ist es auch, denn im nächsten
Band hat die Menschheit die Blasentechnologie konsequent weiterentwickelt.
"Gestrandet in der Realzeit" handelt ein paar Jahre später... genauer
gesagt, etwa 50 Millionen Jahre später.
Die Einkapselung in Blasen ist ein übliches
Mittel geworden, um in die Zukunft zu gelangen. Aus den verschiedensten
Gründen springen Leute immer weiter - bis sie eines Tages bemerken,
daß die Erde leer ist.
Während einer rätselhaften Periode,
die man im Nachhinein "Das Große Sterben" nennt - obwohl durchaus
nicht klar ist, ob jemand dabei starb - verschwanden die Menschen von der
Erde, nur die verblasten Zukunftsreisenden blieben zurück.
Millionen Jahre in der Zukunft versuchen
die Übriggebliebenen mit Hilfe der Supertechnologie aus der jeweiligen
Zeit ihrer "Abreise", die Zivilisation wieder neu zu starten. Doch nicht
jeder scheint das für ein gutes Ziel zu halten. Marta Korolew, eine
der beiden Frauen hinter dem Projekt, wird bei einem Zeitsprung "vergessen",
der drei Monate dauern sollte. Er dauert jedoch fast hundert Jahre, so
daß Marta als einziger Mensch auf Erden lebt und schließlich
stirbt.
Die offensichtliche Manipulation schreit
Mord. Und so engagiert die andere Frau einen Polizisten, der unfreiwillig
verblast und von ihnen aufgelesen wurde. Wil Brierson macht sich an die
Lösung und muß erkennen, daß alles ein Komplott ist, um
den Plan der Korolews zu Fall zu bringen.
Es ist eine interessante Art von Detektivgeschichte,
bei der man bis zum Schluß wirklich nicht weiß, wer nun was
auf dem Kerbholz hat und was da eigentlich läuft. Zum ersten Teil
gibt es nur lose Verbindungen (wie Wils Namen, er wurde nach Wili, dem
Genie, benannt), bis auf eine andere Person. Della Lu, die im ersten Teil
eine Agentin des Friedensamtes war, aber im letzten Moment die Zündung
von Atomwaffen verhinderte, ist nunmehr 9000 subjektive Jahre alt und eine
Raumfahrerin, die in der ganzen Galaxis gewesen ist. Von einer negativen
ist sie zu einer positiven Figur geworden, obwohl man das nicht gleich
merkt.
Im Laufe der Handlung werden Theorien
über Das Große Sterben angeboten, aber es wird nicht erklärt,
und wird der Mordfall weiterverfolgt. Natürlich eskaliert alles in
einem Konflikt, bei dem die letzten geretteten Friedensbeamten eine Rolle
spielen und die Frage geklärt wird, ob eine zweite Kolonie der Menschheit
eine Chance bekommt oder nicht.
Es wimmelt von High-Tech an der Grenze
des Vorstellbaren, von unermeßlichen Zeiträumen und eigenartigen
Leuten. Die Menschheit hat sich selbst verschwinden lassen, die Zukunft
ist sehr unklar, aber trotzdem ein irgendwie optimistisches Buch. Natürlich
bis auf die traurigen Stellen, die von Marta Korolew handeln.
The Peace War, © 1984 by Vernor Vinge,
übersetzt von Rosemarie Hundertmarck 1989, 378 Seiten, DM 10.80
Marooned in Realtime, © 1986 by Vernor
Vinge, übersetzt von Rosemarie Hundertmarck 1989, 361 Seiten, DM 10.80
SX 88
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