Nancy Kress: Bettler in Spanien

Nancy Kress: Bettler in Spanien
(Heyne 06/5881)


Ohne Zweifel hat dieses Buch den "Nebula" und den "Hugo" verdientermaßen erhalten. Und offenbar gelten bei der Verleihung dieser Preise immer noch Kriterien hoher literarischer Qualität, wenn auch Mainstream-Kritiker der Science Fiction dies immer wieder abzusprechen versuchen und ihr mit geistiger Unflexibilität gegenüberstehen.
Womit wir schon beim Thema wären.
Der Roman, übrigens Auftakt zu mindestens einer Trilogie, überspannt in seinem Handlungsbogen fast ein ganzes Jahrhundert - das kommende nämlich. Im Jahre 2008 ist es möglich geworden, bei menschlichen Embryonen nicht nur eventuelle genetische Defekte zu korrigieren, sondern man kann sich praktisch maßgeschneiderte Nachkommen machen lassen. Jedenfalls, wenn man das nötige Kleingeld dazu hat. Angesichts der fast schon hysterisch zu nennenden Aufregung um Gentechnik und Kloning zur heutigen Zeit erscheint das vielleicht etwas unrealistisch, aber Kress' Roman baut nicht nur in dieser einen Beziehung auf einer recht erstaunlichen pragmatisch wirtschaftlich orientierten Philosophie auf. Deren Erfinder hat der Menschheit, nebenbei gesagt, auch die Kalte Kernfusion und damit die Lösung einiger wesentlicher Probleme beschert.
Was man nun mit verschiedenen Embryos macht, ist nicht nur eine kosmetische Veränderung. Schlafforscher entdeckten, daß man das Schlafbedürfnis des Menschen durch Genmanipulation völlig beseitigen kann - und daß damit eine enorme Steigerung der Intelligenz einhergeht. Die "Schlaflosen" werden geschaffen.
Es dauert eine ganze Weile, bis aus den Wunderkindern, vor denen erst mal nur die eigenen hausbackenen, hysterischen amerikanischen Blondinen-Mütter Angst haben, etwas wird, das zunehmend von der normal gebliebenen Umwelt abgelehnt und gehaßt wird. Die Schlaflosen sind einfach besser als die Schläfer. Sie sind erfolgreicher, verdienen mehr und hinzu kommt, daß eine Nebenwirkung ihnen Langlebigkeit und "ewige" Jugend verschafft.
Die Hauptgestalt des Romans ist Leisha Camden, Tochter sehr reicher Eltern, denn andere können sich keine maßgeschneiderten Kinder leisten. In brillanter Weise schildert Nancy Kress ihre ersten Lebensjahre, und zwar überzeugend aus der Sicht des Kindes. Erst als Leisha erwachsen ist, wird die Handlung kontinuierlich. Zu diesem Zeitpunkt beginnen auch die Anfeindungen der Schlaflosen durch die Schläfer.
Dieser Zug des Buches ist natürlich ganz und gar nichts neues, in vielerlei Variation thematisierten Autoren immer wieder den "Slan" und die Reaktion seiner Umwelt auf ihn. Hier ist es also überragende Intelligenz und Langlebigkeit. Sind das nicht zwei sehr erstrebenswerte Dinge, beides Sachen, an deren Erreichung die Wissenschaft ja vielleicht mit Erfolgsaussichten arbeiten könnte? Aber stellt man sich vor, es würde tatsächlich eine Gruppe von Menschen so verändert, eine ganze Generation gar, wie würde die Reaktion der anderen Menschen sein? Autoren wie Sharon Webb oder Nancy Kress gestalten das Szenario immer ähnlich. Ihr düsteres Bild von der Menschheit als einer neidischen, gierigen und haßerfüllten Masse von existentiellen Versagern wirkt dabei leider überzeugend. Der Neid auf etwas, das der Andere hat und was man selbst nicht hat und auch nicht haben kann, ist doch eine tatsächlich verbreitete Einstellung, die sich meist in dumpfer Aggression entlädt. Kommt noch der Gegensatz von ungebildeter Dummheit und überragender Klugheit hinzu, haben wir das Bild, welches die Autorin hier zeichnet.
Allerdings bleibt Nancy Kress nicht dabei stehen. Ihr Roman lotet in tiefgründiger Weise eine Vielzahl sozialer bzw. soziologischer Zusammenhänge aus, die hierbei denkbar wären oder an gegenwärtig existente Formen angelehnt sind. Nichts ist hier einseitig oder schablonenhaft. Im Laufe der Entwicklung erringen die Schlaflosen trotz der Feindseligkeiten immer mehr wirtschaftliche Macht, sicher nicht zuletzt auch deswegen, weil sie schon genug finanzielle Voraussetzungen mitbrachten. Aber es ist ihnen in einigen Fällen auch nicht eine gewisse und zunehmende intellektuelle Arroganz abzusprechen. Die Schläfer werden z.B. später von ihnen nur noch als Bettler bezeichnet.
Dieser auch titelgebende Begriff stammt aus einem Gleichnis, das am Anfang des Buches benutzt wird und sich durch den ganzen Roman (Zyklus?) zieht. Es geht hierbei im Prinzip um eine Infragestellung des Verhältnisses zwischen jemandem, der durch seine Leistung "der Gemeinschaft etwas zu geben imstande ist" und jemandem, der "nur von ihr nimmt". Die Schlaflosen weisen später größtenteils jede Verantwortung für "Bettler" von sich. Ihre Philosophie konzentriert sich auf das, was ein Individuum erreichen will und kann, seinen Nutzen für sich und die Gesellschaft. Für die Bettler haben sie nur Verachtung übrig. Diese Haltung eskaliert bis an einen Punkt, wo die Schlaflosen in ihrer Kolonie einige ihrer Mitglieder umbringen, die unverschuldet zu "Bettlern" wurden, etwa, weil sie regressiv geboren oder wegen eines Unfalls behindert sind. - "Jeder, der zu verschieden von uns denkt, ist kein wahres Mitglied unserer Gemeinschaft." (S. 450)
Man muß den Roman schon sehr aufmerksam lesen, um sich nicht durch die scheinbar unparteiische Argumentation der Autorin auf den Gedanken bringen zu lassen, daß sie diese Art Philosophie vorbehaltlos vertritt. Oh ja, sie malt deren scheinbare wirtschaftspolitische Vorzüge aus. Aber nicht nur diese Seite. In einer Welt der ständig steigenden Arbeitslosenzahlen könnte es sonst wie Hohn klingen, von den Möglichkeiten der Selbstverwirklichung des Individuums in nützlicher Arbeit zu reden. Das Märchen davon, daß jeder Arbeit haben kann, der es nur wirklich will, glaubt zumindest keiner mehr, der sich die Mühe des Nachdenkens gemacht hat.
Die Figur der Leisha ist irgendwo in der Mitte zwischen Schlaflosen und Schläfern angesiedelt. Sie ist eine der wenigen Schlaflosen, die sich nicht in freiwillige Isolation zurückziehen wollen, zuerst in einer eigenen Stadt, später in einer Orbitalstation. Über ihr Erleben und das anderer Handlungsträger wird die Entwicklung der Welt bis Ende des 21. Jahrhunderts verfolgt. Größtenteils konzentriert sich Kress auf die USA, welche dank der Rechte an der Kalten Kernfusion noch einmal zu wirtschaftlicher Macht und Einfluß gelangten und somit eine Schlüsselrolle in der Welt spielen können. Aber das hält nicht vor. Am Ende sind 80% der Bevölkerung Nutzer, 20% Macher. Was heißen soll, daß die Nutzer Arbeitslose sind, die von den großzügigen Zuteilungen der Wohlfahrt leben, und die Macher so etwas wie Börsianer oder Anwälte, jedenfalls niemand, der sich die Hände dreckig macht. Dafür gibt's Roboter.
Vor allem im letzten Teil, als sich die Raumstation der Schlaflosen von den USA lossagen will, spielt die Unabhängigkeitserklärung eine große Rolle; in anderen Zusammenhängen wird Lincoln oft zitiert. Es ist damit ein sehr amerikanisches Buch, aber andererseits ist nicht abzustreiten, daß die sogenannte westliche Welt und die "Demokratie" in vielerlei Hinsicht auf US-amerikanischen Vorstellungen basiert. Zum Glück für einen z.B. deutschen Leser zitiert Kress die relevanten Stellen oft und präzise, so daß man sich nicht mit Andeutungen von Dingen zufriedengeben muß, die angeblich jedem Amerikaner geläufig sind.
Nancy Kress ist als Autorin gut genug, um nicht bloß ein gesellschaftspolitisches Pamphlet abzuliefern. Das Nachdenkenswerte oder auch das Diskussionswürdige ist in einer Handlung verpackt, die durchaus menschliche Schicksale aufleben läßt und sich über einen glaubwürdigen Zeitraum erstreckt. Ich glaube, sie sagt mit dem Roman so viele Dinge, daß man ihn vielleicht sogar zweimal lesen sollte, um mehr davon erfassen zu können.
Und das ist eine Empfehlung, die ich selten gebe.

Beggars in Spain, © Nancy Kress 1993, übersetzt von Biggy Winter 1997, 571 Seiten, Hardcover-TB, 19.90 DM

SX 90

 

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