Isaac Asimov & Robert Silverberg: Kind der Zeit

Teamwork
Isaac Asimov & Robert Silverberg: Kind der Zeit
(Heyne 01/10366)

Es war bei den Fans von Anfang an ein umstrittenes Projekt, als man hörte, daß Robert Silverberg eine Short Story von Isaac Asimov in einen Roman verwandeln sollte. Die Idee dazu ging wohl von den Verlagen aus, wie Silverberg bei seinem Aufenthalt in Leipzig erwähnte. Und Asimov soll auch zugestimmt haben.
Die Story, um die es hier geht, ist "The Ugly Little Boy", die unter dem Titel "Die Mutter des Neandertalers" z.B. in "Die Asimov-Chronik - Die vierte Generation" (Heyne 06/8228) veröffentlicht wurde. Übrigens wieder mal ein Geniestreich an deutscher Titelgebung, der den Intentionen Asimovs Hohn spricht.
Man kommt nicht umhin, die Story noch einmal zu lesen und sie mit dem Roman zu vergleichen, wenn über ein solches Projekt gesprochen werden soll. Es interessiert ja, was Silverberg nun dazu "gedichtet" hat, und was von Asimov stammt.
Der Gesamteindruck aus beiden Werken ist vielleicht ein wenig überraschend: Der Roman ist besser. Vor allem sicherlich, weil er - was in der Natur der Dinge liegt - viel ausführlicher ist. Wo Asimov etwas beiläufig in einem Satz erwähnt, macht Silverberg einen Absatz daraus und verdeutlicht es gleichzeitig viel mehr. Aber nicht nur so hat er gearbeitet. Mir fiel auf, daß sich Silverberg offenbar sehr viel mehr Gedanken um logische Zusammenhänge gemacht hat als der ursprüngliche Autor. In ein paar Fällen veränderte er in vorsichtiger Weise sogar etwas, daß es nun schlüssiger wirkt. Die wissenschaftlichen Hintergrundrecherchen Silverbergs müssen wesentlich tiefgründiger gewesen sein. Er geht auf Theorien über Neandertaler ein und stellt infolgedessen auch Dinge in Frage, die bei Asimov einfach als gegeben angenommen werden, z.B. die Sprachfähigkeit von Neandertalern.
Eine wesentliche Erweiterung des Plots stellt eine Nebenhandlung um die Sippe oder den Stamm der Neandertaler vor 40000 Jahren dar, aus welchem die Wissenschaftler mittels einer Art Zeitmaschine einen vierjährigen Jungen "entführen". Die Gruppe, die sich selbst als Die Menschen bezeichnet, irrt nomadenhaft durch das Land am Ende der Eiszeit, teilweise auf der Flucht vor den Anderen, in denen man leicht den Homo Sapiens, also den Vorfahren des heutigen Menschen wiedererkennt. Im Laufe der immer wieder eingeschobenen Intermezzo-Kapitel spitzt sich der Konflikt mit den Anderen fast bis zum Kampf zu, in dem die zahlenmäßig unterlegenen Neandertaler sicher den Kürzeren ziehen würden. Silverberg geht nicht so weit, aufklären zu wollen, wie genau diese Unterart des Menschen nun ausstarb. Aber er verfolgt ziemlich tiefgründig die eigentliche Frage ihres Menschseins, die sich leicht auch auf andere Bereiche ausdehnen ließe. Der oder das Fremde an sich, die angeblich instinktiven Reaktionen usw.
Für Miß Fellowes, die von der Stasis GmbH eingestellte Kinderkrankenschwester, ist der erste Kontakt mit dem Neandertaler ein Schock. Aber sie gewöhnt sich rasch an ihn und liebt ihn am Ende wie ein eigenes Kind, das die altjüngferliche Frau nie hatte. Silverberg gibt dieser Gestalt wesentlich mehr Tiefe als es Asimov (in einer Short Story) konnte und wollte. Der Leser erfährt, was sie bewegt und schließlich zu ihrer Tat bringt, die im Roman wie in der Story am Anfang steht, aber erst am Ende des Handlungsbogens wirklich ausgeführt wird. Damit benutzt Silverberg sogar die Struktur der Story, wenn er sie auch inhaltlich sehr auffüllt und teilweise verändert. Er fügt außer den Neandertalern noch eine kleine Bedrohung der Firma in der Gegenwart hinzu, einen gewissen Bruce Mannheim, der sich "Anwalt der Kinder" nennt und scheinbar edelmütige Ziele im Sinne der Rechte der Kinder verfolgt, aber andererseits wie ein profilierungssüchtiger Demagoge wirkt. Durch ihn wird erst bei Silverberg die Frage aufgeworfen, ob das Experiment der Zeitversetzung nicht ein - verbotenes - Experiment am Menschen darstellt. Am Kinde, um genauer zu sein. Asimov stellt diese Frage nicht.
Im Roman wird angedeutet, daß die Neandertaler, die bekanntlich ein größeres Gehirn als der Homo Sapiens hatten, womöglich intelligenter als dieser gewesen sein könnten. So lernt der Junge relativ rasch sprechen und später sogar lesen. Die Intermezzo-Handlung zeugt auch nicht gerade von geistiger Primitivität. Aber wie gesagt, Silbverberg hält sich sehr mit Spekulationen über die Neandertaler zurück. Wahrscheinlich, um nicht von der eigentlichen Storylinie abzulenken, die von Asimov her vorgegeben ist.
Das Ende bleibt im Buch ebenso offen wie in der Geschichte. Miß Fellowes schickt sich zusammen mit dem Jungen zurück in die Vergangenheit, auf Nimmerwiedersehen. Ihr plötzliches Auftauchen verhindert außerdem (im Buch) den ausbrechenden Konflikt der Neandertalergruppe mit den Anderen.
Ohne den Umstand, daß der Roman auf einer Story basiert, gäbe es keinen Grund zur Skepsis. Und wenn man ihn liest, merkt man schnell, daß sie unbegründet ist. Manche mögen lieber Short Stories, aber ein Roman gibt doch viel mehr her. Silverberg ist es gelungen, ein Buch zu schreiben, das in seinen Grundzügen der Vorlage durchaus gerecht wird, aber viel weiter über sie hinausgeht. Ein Buch, das man ruhigen Gewissens empfehlen kann. Selbst beinharten Asimov-Fans.

Child of Time, © 1991 by Nightfall, Inc. & Agberg, Ltd., übersetzt von Irene Holicki 1997, 382 Seiten, DM 14.90

SX 93

 

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Good Omens 2

Damsel – der Film

Lois McMaster Bujold: Spiegeltanz