Nancy Kress: Bettler und Sucher

Nancy Kress: Bettler und Sucher
(Heyne 06/5882)

Über die Vorgeschichte ist ausführlich in meiner Rezension in SX 90 zu lesen.
Der zweite Teil der "Bettler"-Trilogie verfolgt den Weg der Menschheit von 2106 bis 2115 weiter. Die Menschheit ist aufgrund der verschiedenen neuen und revolutionären Technologien völlig verändert. Die billige und vielseitig anwendbare "Y-Energie" hat die Wirtschaft umgekrempelt. Roboter und automatische Fabriken stellen alles her, was man zum Leben brauchen kann. Die Folge ist aber, daß über 80% der Menschheit nur noch konsumiert, nicht jedoch arbeitet. Das sind die Nutzer. Mit der Organisation und Überwachung der Produktion und des gesellschaftlichen Lebens sind die Macher beauftragt, die sozusagen "Diener des Volkes" sind und mit ihren "Leistungen" um die Wählerstimmen der Nutzer buhlen. Ein böser Seitenhieb auf heutige amerikanische Verhältnisse. Zwischen Machern und Nutzern stehen die Techs, die nicht ganz zu der Oberschicht gehören, aber sich auch nicht den verdummten Volksmassen zurechnen. Denn verdummt sind die Nutzer. Da es für sie nicht notwendig ist, Bildung zu haben, wird ihnen auch keine zuteil. Eine der Gestalten des Buches, die Mutter eines sehr intelligenten kleinen Mädchens, verbietet diesem gar, zu oft in die Schule zu gehen!
Doch auch die Macher sind nicht wirklich jene, welche die Geschicke der Menschen lenken. Eigentlich sind das die durch genetische Optimierung erzeugten Schlaflosen, besonders aber die 27 Super-Schlaflosen. Deren überragende Intelligenz macht sie zu etwas anderem als Menschen, wie es im Buch nicht gerade freundlich von ihnen gesagt wird. Der Neid und die Mißgunst der "Minderbemittelten", der Schläfer oder Bettler, sind noch immer vorhanden. Aus ihm entwickelt sich eine Untergrundbewegung, die Rückhalt selbst in der amerikanischen Regierung zu haben scheint.
Der Roman handelt übrigens wieder nur in den USA, der Rest der Welt spielt kaum eine Rolle. Das halte ich für ein gewisses Manko, das es dem nichtamerikanischen Leser nicht einfacher macht, das ohnehin schon schwierige Buch zu lesen. Dieser amerikanische "Patriotismus" kommt besonders bei der Figur der Diana Covington alias Vicky Turner zu Ausdruck, die sich aus Abscheu vor übertriebenen genetischen Modifikationen von einer Überwachungsbehörde als Agentin anheuern läßt.
Der Neid und Egozentrismus der Schläfer hat im Roman auch seine Hauptfigur, wenn er in ihr auch sehr hintergründig bleibt und bis zur Enthüllung gar nicht so klar ist. Drew Arlen, der einzige halbwegs normale Mensch, den die Super-Schlaflosen an sich heranlassen, dem sie vertrauen - und der sie schließlich verrät. Arlen ist als Künstler zugleich Werkzeug und Mittler für die SuperS, aber nicht nur dieses Benutztwerden bringt ihn zu seinem Verrat. Wie die SuperS Miranda Sharifi ausdrückt, konnte er es im Verhältnis mit ihr nicht ertragen, zweitrangig zu sein. Für eine SuperS ist nämlich ihr wissenschaftliches Projekt erstrangig.
Sind die Schlaflosen also die verbohrten Mad Scientists des Buches? Keineswegs! Sie sehen im Gegenteil den Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation durch die geistige Vernachlässigung von 80% der Bevölkerung voraus und arbeiten, um die katastrophalen Auswirkungen zu verhindern. Das ist so wichtig, daß die Reaktion Arlens wie das Plärren eines trotzigen Kindes wirkt - was er je geistig im Vergleich mit den SuperS auch ist.
Gegen den Widerstand der Behörden erschafft diese Wissenschaftlerelite ein medizinisches Allroundmittel auf Nanotechbasis, den Zellreiniger. Zusammen mit ihm verabreicht man den Menschen aber noch etwas, das ihnen ermöglicht, ohne Nahrung auszukommen, praktisch von Photosynthese zu leben. Damit retten die SuperS am Schluß nicht nur die Menschen vor einer genmodifizierten Seuche der rotnackigen Mörder aus der Untergrundbewegung, sondern machen sie auch völlig von den Almosen der Macher-Regierung unabhängig.
Nancy Kress verbindet weiterhin auf überzeugende Weise eine Vielzahl von Entwicklungen auf wissenschaftlichem Gebiet und versucht, deren wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen zu analysieren. Es ist ein Trugschluß, daß es keine so umwälzenden technologischen Sprünge mehr geben könne, wie in den vergangenen Jahrhunderten. Aber man wird sicher erst im Nachhinein feststellen können, wie groß die kombinierten Auswirkungen von neuen Dingen wirklich sind. Ein paar heute vorstellbare Auswirkungen hat die Autorin hier beschrieben. Die ständig steigende Zahl von Arbeitslosen ist heute nicht die Folge der Einführung radikal neuer Technologie wie der Y-Energie, sondern nur von ganz normalen Innovationen und Rationalisierungen. Was für ein Schock für die Weltwirtschaft wäre es, wenn es innerhalb einiger Jahrzehnte wirklich zur Einführung ganz neuer Produktionstechnologien käme, die den Menschen beinahe ganz aus dem Prozeß werfen? Das Nicht-Arbeiten würde nach kurzer Zeit überwiegen, doch wer soll dann das konsumieren, was produziert wird? Also müssen durch eine soziale Umbewertung und Umstrukturierung die Nutzer entstehen, eine wachsende Bevölkerungsschicht, deren einzige reale Aufgabe der Konsum im Interesse der Aufrechterhaltung der Wirtschaft ist. Andernfalls gibt es Krieg, Revolution und Tod. Früher oder später bestimmt.
Man kann nun, um wieder auf das Buch zurückzukommen, darüber spekulieren, was aus dieser autotrophen Menschheit werden wird. Schon vor der Umwandlung war das Bildungsniveau der Nutzer niedrig, ihre Interessen ähnelten denen mittelalterlicher Dorfbewohner - nur daß sie nichts zu tun hatten. Jetzt, wo sie alle gesunde und satte Menschen sind, werden sie sich doch kaum von selbst den Bildungsterminals zuwenden und ihrer Existenz einen größeren Sinn geben. Die Ausnahme - jenes oben erwähnte sehr intelligente Kind - ist eben eine Ausnahme. Werden nicht die Nutzer eher zu dumpfen Halbtieren werden, die nur noch sinnlos durch die Landschaft ziehen, um genug Sonne abzubekommen? Diese Frage wird hoffentlich der dritte Teil, "Bettlers Ritt", beantworten.

Beggars and Choosers, © 1994 by Nancy Kress, übersetzt von Biggy Winter 1997, 492 Seiten, Hardcover-TB, DM 19.90

SX 94

 

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