Stephen Baxter: Anti-Eis
Stephen Baxter: Anti-Eis
(Heyne 06/5891)
Was für eine beklemmende Vision: Ende des 19. Jahrhunderts ist
das britische Empire ein alles beherrschendes, totalitäres Weltreich.
Und der Grund dafür ist die Entdeckung von Anti-Eis in der Antarktis.
Das ist keine Antimaterie im üblichen Sinne, wie der Name vermuten
lassen könnte. Aber etwas in der Art schon. Nur bei arktischen Temperaturen
ist diese Substanz, die Teil eines Kometen war, stabil, weil dann ihre
interne Supraleitfähigkeit ein Magnetfeld aufrechterhält, das
die Annihilation verhindert. Wem das zu kompliziert klingt, der wird allerdings
an dem Roman kaum Freude haben. Er ist gespickt mit altertümlich anmutenden,
aber dennoch höchst phantastischen Erklärungen.
Jedenfalls haben die Briten ein Monopol auf den Stoff, der als äußerst
effektive und billige Energiequelle dient. Auf Anti-Eis basiert inzwischen
die gesamte Industrie und Technologie. Doch auf welche Weise, das ist schon
irgendwie seltsam. Man verwendet das Eis, als sei es Kohle, nämlich
zur Dampferzeugung. Zwar kennt man Elektrizität, aber es fahren die
Einschienenbahnen offenbar mit Dampf, der von Anti-Eis Turbinen erzegt
wird. Sogar ein so unsinnig anmutendes Projekt wie ein gigantisches Landschiff
wird realisiert. Und nicht zuletzt entsteht der Prototyp eines Raumschiffes,
gebaut von Sir Traveller, der scheinbar als das einzige Universalgenie
seiner Zeit beinahe alle Erfindungen macht.
Wenn das ein klein wenig unrealistisch klingt, so ist das gewollt.
Baxter hat den gesamten Roman in Stil und Diktion jener Zeit geschrieben,
in der er handelt, vergleichbar vielleicht mit Wells oder Verne. (Seit
seinem "Zeitschiffe" hat er darin ja Erfahrungen.) Somit ist auch die überholt
erscheinende Ansicht vom Universalgenie als dem Motor des Fortschritts
ein integraler Bestandteil der Weltsicht des Buches. Mit keiner Silbe läßt
Baxter sich selbst als den Erzähler zu Wort kommen. Der in der Ich-Form
berichtende Protagonist des Werkes bleibt konsequent eine Figur aus seiner
Zeit.
Auch die Übersetzung hält sich anscheinend an den Ton des
Originals, was das Buch allerdings nicht immer einfach lesbar macht. Nicht
nur die Personen reden seltsam ge-schraubt, alles wird so ausgedrückt.
Der Stil dürfte natürlich nicht unbedingt jedermanns Geschmack
sein. Wie bereits er-wähnt, gibt es lange und teils verschrobene Erklärungen
für alle möglichen technischen Details. Da der Protagonist Ned
Vicars keine besondere Geistesleuchte ist, gibt es für Traveller oft
genug Gelegenheit, ihn zu belehren.
Ein großer Teil des Romans wird von der unfreiwilligen Reise
mit Travellers dampfgetriebenem Raumschiff zum Mond eingenommen. Es wird
nämlich von einem französischen Partisan gekapert, der seine
Wasservorräte so sehr strapaziert, daß man auf dem Mond notlanden
und Wasser suchen muß. Ja, ein Partisan, denn nicht jeder in dieser
schönen fortschrittlichen Welt ist mit der britischen Hegemonie einverstanden.
Und auch das großartige Anti-Eis hat natürlich seine dunkle
Seite. Am Anfang des Romans steht ein Bericht darüber, wie im Krimkrieg
von 1855 Sewastopol durch eine Anti-Eis-Granate zerstört wurde. Keine
Radioaktivität, aber sonst ist die Wirkung genau wie die einer Atombombe.
Traveller ist der irrigen Ansicht, daß er nur eine Menge friedlicher
Anwendungsmöglich-keiten für das Eis präsentieren müsse,
um eine Wiederholung dieses Schreckens zu verhindern. Er irrt sich natürlich.
Nach ihrer kaum beachteten Rückkehr vom Mond müssen die Reisenden
feststellen, daß ein Krieg zwischen Preußen und Frankreich
tobt. Das Raketenprinzip Travellers ist schnell angewendet und das preußisch
besetzte Orleans mit einer strategischen Anti-Eis-Rakete von England aus
in Schutt und Asche - wohl mehr Asche - gelegt.
"Anti-Eis" ist ein bitteres Buch, das im scheinbaren Stil der fortschrittsgläubigen
Autoren vom Ende des letzten Jahrhunderts ausmalt, wie die Menschen den
Fortschritt unweigerlich zur Vernichtung benutzen, daß sich die Politiker
gar nicht darum kümmern, was es für friedliche Anwendungen gibt.
Aber hat nicht auch Wells in seinen letzten Werken eher düstere Bilder
gemalt?
Der Menschheit war in diesem Roman hundert Jahre vor der Kernenergie
eine vergleichbare Quelle praktisch in den Schoß gefallen. Sie erwies
sich nicht etwa als nicht bereit dafür, sondern man dachte sich Anwendungsmöglichkeiten
aus, die auf dem Stand der Zeit waren und nur uns vielleicht belustigend
vorkommen. Ob man in hundert Jahren so über uns denkt, die wir Erdöl
verbrennen und Uran in Reaktoren und Bomben packen? Hier eine Analogie
zu sehen, liegt nahe.
Baxter erwähnt übrigens eine Unmenge historischer Daten,
die auf intensive Recherchen schließen lassen, wenn ich selbst auch
in einem Geschichtsbuch blättern müßte, um festzustellen,
inwieweit er sich auf Personen und Ereignisse der tatsächlichen britischen
und europäischen Geschichte bezieht.
Anti-Ice, © Stephen Baxter 1993, übersetzt von Martin Gilbert 1997, 317 Seiten, DM 12.90
SX 94
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