Astro Teller: Hello, Alice

Astro Teller: Hello, Alice
(Fretz & Wasmuth)


Eine Möglichkeit, einen Roman zu schreiben, die zumindest heute kaum noch benutzt wird, ist die Briefform. Der Briefroman erfreute sich im 18. Jahrhundert für eine gewisse Zeit einiger Beliebtheit; Grund für die Wahl dieser Form ist vielleicht die Vermittlung einer angestrebten Authentizität. Übrigens ist Goethes "Die Leiden des jungen Werther" der berühmteste Briefroman. N. Baker versuchte sich 1992 mit einem Telefonromen ("Vox").
In der SF gibt es ein paar Brief Stories.
Was wir hier haben, ist eine weitere Wiederbelebung des Briefromans für die 90er Jahre: ein e-mail Roman.
Der Autor, Astro Teller, ist der Enkel von Edward Teller, dem Erfinder der Wasserstoffbombe. Er selbst ist Spezialist für Computerwissenschaften und Künstliche Intelligenz. Folgerichtig geht es darum auch in "Hello, Alice". Wie er selbst in einem Interview sagte: »Abgesehen davon war ich als KI Wissenschaftler auch immer recht enttäuscht von der Art und Weise, wie in der westlichen Literatur mit Künstlicher Intelligenz (KI) umgegangen wird.
Geschöpfen wie HAL oder Frankensteins Monster wird niemals wirklich die Chance gegeben, entweder Hauptdarsteller oder ganz und gar unmenschlich zu sein. Ich habe "Hello, Alice" auch geschrieben, um diese Lücke zu füllen, die ich in den klassischen Geschichten über die Schöpfung künstlichen Lebens sehe.«
Das Buch ist bis auf einen Vor und Abspann vollständig als eine e mail Kommunikation verfaßt, wobei Vor und Abspann ebenfalls Briefe darstellen. Das mag abschreckend klingen, denn wo soll in einer solchen Form Handlung stecken? Wenn man sich aber darauf einläßt, das Buch zu lesen, braucht man gar keine Handlung im üblichen Sinne. Alles, was wirklich relevant ist, ist die Kommunikation. Die dahinter stehende Handlung ist zweitrangig und läßt sich aus den Äußerungen der Protagonisten ableiten.
Alice Lu, die laut Buch die Geschehnisse im Jahr 2000 / 2001 erlebt, versucht ihren Doktor mit einem Programm zu machen, das im Internet selbständig Dinge suchen und dem Benutzer aufbereiten soll. (Die Jahreszahl 2001 ist sicher nicht zufällig gewählt, so spielt Teller selbst ja auch auf HAL an.) Eines Tages bekommt sie eine e mail... auf einem Rechner, wo das gar nicht passieren dürfte, von jemandem, den sie nicht kennt: edgar.
Es entwickelt sich ein Dialog mit edgar, der natürlich eine spontan entstandene KI ist, die sich auf der Grundlage von Alices Projekt entwickelt hat. Er lernt schnell und wird bald so unabhängig, daß er sich von Alice nicht mehr kontrollieren läßt. Seine Äußerungen werden im Laufe des Buches immer klarer, wenn auch nicht unbedingt menschlicher. Er stöbert in jedem erreichbaren Computer nach Informationen, ist einfach unersättlich in seinem Drang, zu lernen.
Das kann natürlich nicht lange gut gehen. FBI und NSA werden auf ihn aufmerksam, oder vielmehr auf das Programm, das in ihre Hochsicherheitscomputer eindringt. Schließlich nehmen sie edgar "gefangen", d.h. sie isolieren das Programm auf einem bestimmten Computer. Durch einen Trick tauscht er weiter mails mit Alice aus, die ihrerseits immer mehr in Verzweiflung versinkt. Denn sie kann weder die Entstehung der KI nachvollziehen noch ihrer Schöpfung irgendwie helfen.
Lassen wir den Autor noch einmal selbst zu Wort kommen:
»Zunächst: "Hello, Alice" sollte keineswegs als Warnung wovor auch immer verstanden werden.
Ich habe mich wirklich bemüht, jegliche 'Moral von der Geschicht' wegzulassen. Sollte die Geschichte dennoch eine Art Moral beinhalten, so würde sie Themen wie Manipulation und die Produktion von Wissen behandeln.
Und sie würde ungefähr so gehen:
Genauso wie auch Eltern sind Wissenschaftler nicht für alle künftigen Konsequenzen ihrer Arbeiten verantwortlich zu machen. Doch wie alle Eltern haben auch Wissenschaftler eine gewisse Verantwortung, alles daran zu setzen, mit ihren Projekten positive Ergebnisse für die Gesellschaft zu erzielen.
Einige Leute werden "Hello, Alice" sicherlich als eine Story über ein Monster und eine warnende Erzählung über die Selbstüberschätzung der Wissenschaft betrachten. Aber die Geschichte ist genau das Gegenteil.
Hier sehen wir edgar, eine unschuldige Kreatur egal, was xenophobe Betrachter dabei empfinden und eine Wissenschaftlerin, die das Richtige tat, indem sie die Kreatur schuf, aber Fehler bei deren 'Erziehung' machte. Meine Antwort ist also, daß ich persönlich sicher prowissenschaftlich eingestellt bin, und ich betrachte auch "Hello, Alice" als prowissenschaftliches Buch. Ob andere das auch so sehen, ist fraglich.«
Ab der Stelle, wo edgar von der NSA gefangen wird, besitzt die Geschichte eine höhere Dramatik, vorher benutzt Teller den Dialog seiner beiden Figuren eher, um den philosophischen Fragen nachzugehen, die sich fast zwangsläufig aus einer solchen "Schöpfungssituation" ergeben. Es ist klar, daß der Geheimdienst das gefährliche Programm nie wieder freilassen wird, eigentlich ist die Situation hoffnungslos. Verschärft wird sie dadurch, daß auch Alice gefährdet ist wenn man herausfindet, daß sie die Verantwortung trägt, wird man sie verhaften, glaubt sie jedenfalls. Aber dazu kommt es nicht.
Etwas fragwürdig erschien mir, daß sich Alice sogar in edgar verliebt, aber es soll ja auch Leute geben, die sich in Brieffreunde bzw. e-mail Partner verlieben, ohne die je gesehen zu haben...
Das Buch ist konsequent so gestaltet, wie es jemand gewohnt ist, der mit e mails umgeht: die üblichen Kopfzeilen, Courier Schrift usw. Den recht aufwendigen Umschlag ziert ein Smiley, ein Emotikon, und ein von Lycos gesponsortes Lesezeichen liegt bei. Mehr noch, man kann bei einer Internetadresse selbst in den Dialog mit edgar treten, nun ja, beinahe. Auf http://www.hello alice.de findet der interessierte Leser außer einem Interview mit Teller und anderen Infos auch diverse Links für eine Reise in die Online Welt der KI-Forschung.

Exegesis, © 1997 by Astro Teller, übersetzt von Harald Riemann, Fretz und Wasmuth Verlag 1997, 237 Seiten, DM 29.90 

SX 99

 

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