Damon Knight: Der Mann im Baum


Die äußerliche Gestaltung ein nackter Mann vor einem Baumstamm ist so unpassend wie der Satz "Er sah die herrlichen Wunder fremder Welten und brachte ihr Licht auf die dunkle Erde" auf dem Cover. Weder das eine noch das andere hat etwas mit dem Buch zu tun.
Es geht in dem Roman in erster Linie um Gene Anderson, Sohn eines Zimmermanns, dessen Leben von der Geburt bis ins reifere Alter verfolgt wird. Gene ist nicht nur ungewöhnlich großwüchsig, er hat auch ein übernatürliches Talent, das er zu seinem Glück sehr lange geheimhält. Er kann mit seinem Geist in Parallelwelten greifen und Dinge von dort herüberbringen, oder umgekehrt. Diese Fähigkeit hat noch andere Auswirkungen, z.B. kann er sich und andere heilen, und er kann damit auch töten.
Knight thematisiert damit wieder einmal ein altes SF Motiv. Der "Freak" und die Reaktion seiner Umgebung auf ihn, die in fast jedem Fall ablehnend bis aggressiv ist. Gene ist als Kind schon wegen seiner Körpergröße ein Freak und wird gnadenlos geschnitten und drangsaliert. Als er mit neun Jahren von einem Zwölfjährigen und dessen Kumpanen angegriffen wird, passiert es, daß jener aus dem Fenster fällt und tot ist. Leider ist er der Sohn des örtlichen Polizisten, der Gene fortan viele Jahrzehnte lang verfolgt, um ihn zu töten. Zunächst flieht der Junge aber in den Wald, wo er sich ein Baumhaus baut und zwei Jahre lang lebt. Das klingt zwar reichlich absurd für dieses Alter, aber der Autor schafft es, gerade noch die Plausibilität zu bewahren. Gene dupliziert Werkzeuge, Lebensmittel usw. mit seinen Fähigkeiten.
Als er entdeckt wird, geht Gene nach San Francisco, wo er eine Kunstschule besucht, denn er besitzt auch Talent als Maler und Bildhauer. Aber auch das bringt ihm nicht die Erfüllung, und so schließt er sich einem Wanderzirkus an als Riese. Wieder entdeckt, verbringt er Zeit in Europa, bis er durch seine besonderen Fähigkeiten zu großem Reichtum gelangt. Man muß nur genügend Diamanten duplizieren und schwarz verkaufen...
Die phantastischen Elemente sind ziemlich selten in diesem Buch, bis auf das gelegentliche Anwenden des Talents passiert nichts ungewöhnliches. Eigentlich liest man mehr von Genes Schicksal des Außenseiters im Amerika der 50er und 60er, dann kommt ein Sprung und er ist reich und wohlhabend, vielleicht auch etwas abgeklärter und weise?
Irgendwann hat Gene dann eine Art Erleuchtung. Er beschließt, die Welt zu retten. Vor keiner imaginären Gefahr, sondern vor genau dem, was in den 80er Jahren an Problemen wirklich auf der Tagesordnung stand. Überbevölkerung, Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung und der Kalte Krieg. Dazu gründet er mit seinen Vertrauten eine Organisation, keine Sekte oder Religion. Er heilt offen Menschen und hält propagandistische Reden. Schnell scharen sich Anhänger um ihn. Aber die Regierung verbietet seine Organisation kurzerhand und will ihn verhaften. Als schließlich einer seiner Anhänger in dem Wahn, Gene sei der wiedergeborene Jesus, ihn erschießen will nur zum Nutzen der Bewegung natürlich verläßt Gene diese Welt mit Hilfe seines Talents.
Der letzte Teil des Buches spielt bewußt mit den Parallelen zur Christusgeschichte, wobei angedeutet wird, daß Christus dieselben Fähigkeiten (und Ideen?) wie Gene gehabt haben könnte. Damals wie heute verfolgte man das Andersartige mit tödlicher Angst. Knight geht jedoch nicht soweit, tatsächlich die Behauptung aufzustellen, Gene sei Jesus. Im Gegenteil behält er eine Art atheistischer Distanz bei. Gene predigt nicht, er versucht zu überzeugen, er holt wissenschaftliche Gutachten ein (ähnlich dem, was der Club of Rome damals machte).
Hat er Erfolg gehabt? Das verrät der Roman nicht. Nur ein abschließendes Kapitel zitiert aus einem Buch Gene des Jahres 2036 in pseudobiblischem Stil die Geschichte seines Verschwindens. In den Augen der Welt ist Gene also doch zu dem geworden, was er nicht sein wollte, aber hat sein Vorstoß der Welt geholfen? Vermutlich ja, denn zuvor in den 80ern war die Rede davon, daß die Welt kaum noch 30 Jahre weiterexistieren könne.
Übrigens verrät uns der Autor mit einem einzigen Nebensatz, daß dies alles nicht auf der Erde spielt. Gene erwähnt eine Parallelwelt, wo Ronald Reagan Präsident geworden ist. Gar seltsame Universen gibt's!

The Man in the Tree, (c) 1984 by Damon Knight, übersetzt von Biggy Winter 1993, 367 Seiten, DM 12.80

Ach ja, Biggy Winter: Das heißt "Zauberer von Oz", nicht Hexer! Mehr Klassiker lesen. 

SX 97

 (Heyne 06/5003)

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